In unserem FC St. Pauli-Museum läuft seit heute “Kiezbeben – die zweite Geburt des FC St. Pauli”. Die Ausstellung erzählt vom Umbruch in den achtziger Jahren, der den Grundstein legte für vieles, wofür der Verein heute steht. Mittendrin damals die Hafenstraße und ihre Bewohner, von denen einige begannen, regelmäßig die Spiele des FCSP zu besuchen. Die Interviews, die in der Ausstellung zu sehen sind, geben einen intensiven Eindruck von der Stimmung damals. Wer noch tiefer eintauchen möchte in die politischen Ereignisse der damaligen Zeit rund um die Hafenstraße, dem sei das Buch von Anne Reiche, die bis heute dort lebt, wärmstens empfohlen – von Sven Brux, der ja selbst einer der damaligen Protagonisten war. Seine Rezension des Buches erschien in Übersteiger 135.
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So ziemlich alle LeserInnen dieses Blatts dürften wissen, was es mit der Hafenstraße auf sich hat. Schon wesentlich weniger dürften schon einmal in einem der Häuser gewesen sein, schon gar nicht zur heißen Zeit damals in den 80ern, als das Ensemble zum europaweiten Symbol für autonomen, militanten Widerstand wurde. So hält sich der Mythos des Hafenstraßen-Blocks, der ab Mitte der 80er mit dafür sorgte, dass sich am Millerntor eine Fanszene neuer Ausrichtung etablierte, meist erzählt von Menschen, die damit wenig zu tun hatten. Umso erfreulicher, dass nun ein Buch erstaunlich direkte und ungefilterte Einblicke in die damaligen Geschehnisse bietet. Die Autorin Anne Reiche hat mit „Auf der Spur“ auf 271 Seiten einen Rückblick auf ihr bisheriges Leben abgeliefert, der es in sich hat.
Anne geht 1965 als junge Frau aus dem Schwabenland nach Berlin und taucht dort ein in die turbulenten Ereignisse, die dieses Land fortan prägen werden. Das Buch lässt einen hautnah miterleben, was damals passierte. Die Demos und wie diese sich entwickelten. Von anfänglich friedlichen Aktionen hin zur Debatte, ob man es sich immer gefallen lassen muss, von der Polizei zusammengeknüppelt zu werden. Am 4. November 1968 war es dann soweit: Zu ersten Mal wurde die heranrückende Polizei mit einem Steinhagel empfangen und zurückgeschlagen. Der Anfang von einer Menge mehr, was folgen sollte …
Der große Unterschied zu anderen Biographien damaliger Protagonisten ist der, dass hier kein altersmilder Professor einen amüsanten Rückblick auf seine Jugend bietet, die nur den Auftakt für seinen Marsch durch die Institutionen bildete. Nein, Anne hat sich für den konsequenten Weg entschieden, ganz oder gar nicht: Kommune, Bewegung 2. Juni, 10 Jahre Knast, nach der Entlassung 1982 nach Hamburg, ab 84 bis heute im Hafen wohnend. Ich war beim Lesen hin und her gerissen zwischen Bewunderung für den furchtlosen Gang, Entsetzen angesichts dessen, was der Staat an Schweinereien abzog und Erstaunen über Fakten, die mir bislang nicht bekannt waren.
Man muss die politische Denke von Anne und den anderen nicht teilen, fühlt jedoch dennoch ständig mit und taucht ein in eine Welt, die nur wenigen offenstand. Etwas näher rückt diese Welt, wenn es um die Hafenstraße geht. Wir erfahren einiges aus dem Innenleben der Gemeinschaft, die so heterogen war, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass daraus ein so entschlossenes gemeinsames Handeln erwuchs. Das Buch bietet aber auch die Gelegenheit, mitzufühlen: All die Zweifel, die Ängste, die Widersprüche, die Bedrohungen lassen einen nicht kalt. Wenn man dabei auch noch erfährt, was alles nur durch Zufälle geschah, kann man nur ungläubig mit dem Kopf schütteln. Doch es gibt auch lustige Szenen. Wie die, als in der Zeit des „Hönkelns“ beispielsweise ein vor den Häusern parkender LKW geknackt wurde, während sich der Fahrer auf dem Kiez amüsierte. Mit der Folge, dass kurz danach etliche Bewohner stolz ihre nagelneuen Cowboystiefel präsentierten …
Die schiere Wut packt einen angesichts der Schweinereien, die sich der Staat einfallen ließ, um den Hafen zu kriminalisieren, Stichwort „Da wohnt die RAF“. Nahezu thrillerartig stellen sich die Wochen in der zweiten Jahreshälfte 1987 dar, als der Konflikt zu eskalieren drohte. Festungsartig ausgebaute Häuser mitsamt einer europaweiten Unterstützerschar gegen einen Staat, der ebenso unbeirrt alles daran setzte, dieses Widerstandsnest auszulöschen. Anne schafft es, den Leser so mitzunehmen, als säße er auf dem Sofa daneben. Sie schildert die Ängste der Aktivisten so plastisch, dass einem fast schlecht wird. Die Einschätzung, dass es bei einer Räumung wahrscheinlich auch zu Toten kommen kann, beeinflusste damals sehr wohl die Gedanken. Wie wir wissen, ist es glücklicherweise nicht dazu gekommen und so können wir in der Folge nachlesen, wie beispielsweise das Viva-St. Pauli-Festival 1991 im Millerntor-Stadion geplant und durchgeführt wurde: So absolut herrlich dilettantisch, aber eben auch mit Liebe und Solidarität. Da kommen Erinnerungen hoch, die längst verdrängt waren.
Wie gesagt: Man muss die politischen Einstellungen nicht zur Gänze teilen. Aber „Auf der Spur“ bietet auf jeden Fall die Chance, einen unverstellten Blick zu erlangen auf das Innenleben einer Bewegung, die über Jahrzehnte die innenpolitische Diskussion prägte und den Boden bereitete für etliches, was auch heute noch in Hamburg präsent ist. Nicht zuletzt die Fanszene in unserem Stadion, deren damalige Entwicklung nicht losgelöst von den Häusern am Hafenrand betrachtet werden kann. Nach der Lektüre des Buches wird man die bunten Häuser in St. Pauli-Süd auf jeden Fall mit anderen Augen sehen. Absolute Leseempfehlung! //SB
Anne Reiche – Auf der Spur | Verlag: Edition Cimarron
ISBN 978-90-824465-2-4
€ 15,00 (auch im Fanladen erhältlich)