Endlich egal

Vergangenheitsbewältigung.

Es gibt Dinge und Themen, die schleppt man seit der Jugend mit sich rum und hat bis ins hohe Alter Schwierigkeiten damit, sie zu verarbeiten.
Der verschossene Kutzop-Elfmeter ist bei mir so ein Trauma gewesen, insbesondere mit der anschließenden Sportschau-Konferenz bzw. dem unfassbaren Verhalten meiner Mutter. Wenn man viel Glück hat, kann man dies irgendwann (zum Beispiel in einem Blogpost) verarbeiten.

Andere Dinge verarbeitet man nie, oder die Situation lässt sich auch gar nicht auflösen.
Stellt Euch vor, Ihr seid Fan des TSV 1860 München und Eure Abneigung gegenüber dem FC Bayern ist immens.
Was wäre ein realistisches Szenario, auf das Ihr in den nächsten 80 Jahren hoffen dürft? Das es mal so richtig furchtbar läuft für die Bayern, sie eine grottige Saison spielen, unfassbar viele Niederlagen kassieren, alles schief geht – und sie sich am Ende nur für die Europa League qualifizieren? Sehr unrealistisch, quasi Fiktion.

Ähnlich erschien es für mich in den letzten Jahren mit dem Nachbarn.
Wie mit obiger Kutzop-Geschichte schon verraten, war meine Kindheit Grün-Weiß.

Ich wuchs auf mit fußballerischer Fan-Sozialisation in den Jahren nach Adrian Maleika. Einem Bremer Fußballfan, der bei einem Auswärtsspiel beim hsv von einem Stein am Kopf getroffen wurde, anschließend wurde er am Boden liegend weiterhin mit Tritten am Kopf traktiert und verstarb schließlich am Folgetag.
Der hsv war mir also schon in meiner Kindheit nicht egal, es war nicht einfach nur ein sportlicher Rivale.

Auch eins meiner ersten Auswärtsspiele ging Jahre später dann in den Volkspark, zusammen mit meiner Mutter. Auf dem Weg zum Stadion versuchte man mir den Schal zu klauen, was bei mir zu zwei Dingen führte:

  • leichte Würgemale am Hals, da der Schal eben locker um diesen herumgelegt war
  • deutlich gestiegener Respekt gegenüber meiner Mutter, die dem Übeltäter kräftig eine schallerte, woraufhin er Reißaus nahm

Ich wiederhole mich: Der hsv war mir also schon in meiner Kindheit nicht egal, es war nicht einfach nur ein sportlicher Rivale.

Als ich dann (erneut Jahre später) Mitte der Neunziger zum FC St.Pauli konvertierte, konnte dies selbstredend diese “Grundskepsis” gegenüber diesem Verein nicht lindern, im Gegenteil.
Und spätestens mit dem Umzug nach Hamburg im Jahr 2001 brach dann auch die letzte eventuell noch vorhandene Neutralität gegenüber dem hsv in sich zusammen.
Wer als Nicht-hsv-Fan in Hamburg wohnt, kommt trotzdem nicht am hsv vorbei.
Damit meine ich gar nicht so sehr die Menschen, denn im Hamburger Stadtgebiet sieht man deutlich mehr Personen mit St.Pauli-Utensilien als Dino-Accessoires (im Umland ist dies umgekehrt), aber die gesamte mediale Betrachtung gilt in erster Linie dem hsv.
Dies ist auch gar nicht verwunderlich und natürlich sportlich auch völlig in Ordnung, schließlich spielte dieser Verein (und später die AG) seit Vereinsgründung immer Erstklassig, gewann diverse nationale Titel, dazu zwei Europapokale, hatte Uwe Seeler, Horst Hrubesch und Kevin Keegan unter Vertrag.
Und der FC St.Pauli? Naja, beim Hallenturnier haben wir ab und an mal gewonnen, später dank unserer Drittklassigkeit auch noch den Oddset-Pokal.

Was aber tatsächlich nervte, war (und ist) die zur Schau gestellte Selbstherrlichkeit, die sich von eben jener medialen Aufmerksamkeit auf (viele) Fans übertrug, gepaart mit einem völligen Unverständnis darüber, dass eine Identifikation im Fußball sich nicht ausschließlich über sportlichen Erfolg definieren muss.
Man ist der große hsv, man hat das größere Stadion, es gehen mehr Leute hin.
Ja… und? Ist doch schön, freut Euch drüber!

Hin zu kamen diverse unangenehme Vorfälle im Stadtteil, Überfälle, etc.
Auch bei uns sind sicher nicht nur Engel unterwegs, keine Frage, aber erneut:
Warum arbeitet man sich in schöner Regelmäßigkeit am Stadtteilverein ab, statt ihn zu ignorieren?
Jede Marketing- oder Merchandise-Aktion wird verteufelt und belächelt, in Zeiten als es tatsächlich mal kurz nach dem Aus für uns aussah wird ein “Bettler”-Shirt als Replik auf die “Retter”-Kampagne kreiert.

Man belächelt unser “Weltpokalsieger”-Gedöns, feiert aber selbst ein 4:4-Unentschieden noch Jahre später?
Kann man alles machen, klar – aber mal ehrlich: Ihr seid der große hsv!
Was stört es Euch als Eiche, wenn sich der kleine Stadtteilverein an Euch schubbert? Und noch mehr, wo ist die Notwendigkeit als Goliath, auch noch auf den am Boden liegenden David einzutreten?

Karma is a bitch – und doch sah es lange nicht danach aus, als würde es je auf den Dino zurückfallen.
Diese unsägliche Uhr, der Dino, das Alleinstellungsmerkmal.
Es schien für alle Zeit fest verankert zu sein.

Und dann? Eine Chronologie der Fassungslosigkeit.

Die Saison 2013/2014
Fünf Niederlagen an den letzten fünf Spieltagen, 27 Punkte – und die Unfähigkeit der Clubs aus Nürnberg und Braunschweig daran noch vorbeizuziehen.
Eine Relegation gegen Fürth, in der man zwei Unentschieden holt (1:1 und 0:0) und dank der Auswärtstorregel drin bleibt.

Noch heute schüttele ich den Kopf, wenn ich nur dran denke. Bis vor kurzem war das Bild vom Fürther Stürmer Azemi, der frei vor dem Tor stehend den Ball nicht trifft, noch sehr präsent bei mir.

Mai 2014: hsv Plus
Alles wird jetzt besser, endlich kommen Fachleute ans Werk.
Wer ein bisschen was auf sich hält verlässt hingegen die AG und wendet sich vom Fußball ab oder geht zum HFC Falke.
Vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die Saison 2014/2015
Ein Heimsieg gegen den Europapokalteilnehmer Schalke 04 (no comment) am letzten Spieltag lässt den hsv erneut in die Relegation einziehen, ein “diskutabler” Freistoß im Badener Abendhimmel zu Karlsruhe sorgt für Tränen bei Junior und Fassungslosigkeit bei mir.
Das Vieh ist nicht tot zu kriegen.
Bruno Labbadia wird Hamburger des Jahres.

Die Saison 2015/2016 verläuft eher unspektakulär, auch wenn es am 30.Spieltag mal wieder nur drei Punkte Vorsprung nach unten sind.

Die Saison 2016/2017
Wie schon zwei Jahre zuvor übertrumpfen sich die sozialen Netzwerke schon Wochen vor Saisonende mit mehr oder auch eher weniger lustigen Dingen zum bevorstehenden Tod des Dinos.
Ein Punktgewinn auf Schalke (no comment) am 33.Spieltag und ein Tor vom in der 86.Minute eingewechselten Luca Waldschmidt in der 88.Minute gegen den VfL Wolfsburg sichern dann aber souverän den Klassenerhalt.
Die Uhr tickt weiter.

Die Saison 2017/2018 – oder auch: Happy End, finally
Die sozialen Netzwerke haben gelernt. Weniger Witze, weniger “Abstiegsfeier”- oder “Uhr abbauen”-Einladungen auf Facebook.
Vereinzelt machen es sich Personen sogar zur Aufgabe, jeden dann doch mal in diese Richtung gehenden Kommentar mit einem ironiefreien “Die steigen nicht ab…” zu beantworten.
Leute gibt’s…

Aber: Es hilft.
Zwar bäumt sich der Dino unter Heilsbringer Titz nochmal auf, Holtbyinho zaubert wie ein junger Gott – aber es kommt alles zu spät.
Die bis heute nicht nachvollziehbare Entscheidung, für eine Mannschaft mit fehlender Durchschlagskraft den Defensivexperten und Ex-St.Paulianer Bernd Hollerbach zu verpflichten ist der Sargnagel in die Erstligazugehörigkeit.
Danke, Bernd, für immer einer von uns. Jetzt wieder.

Die hsv-Fans hatten sich größtenteils schon mit dem Abstieg abgefunden als Titz kam – und man muss es schon so sagen: Die Fallhöhe wurde in den letzten Wochen dann eben doch wieder deutlich erhöht. Statt einem emotionslosen Abstieg am 32.Spieltag in Wolfsburg (Einschub: Das würde man wirklich niemandem gönnen – schlimmer wäre nur noch, durch ein 6:2 in Kiel abzusteigen) war die Hoffnung zurück im Volkspark.
Okay, man musste sich ausgerechnet auf den effzeh verlassen – aber die erneute Rettung schien möglich!

Fantastisch, besser hätte es kaum laufen können – es sei denn, man hätte es doch noch in die Relegation geschafft und wäre dann an Kiel gescheitert, aber ich will hier das Glück auch wirklich nicht strapazieren.

Das Ende

Ich gebe es gerne zu: Der Abstieg des hsv bereitet mir eine immense Freude.
Warum? Siehe oben, unter anderem.

Ich habe nie verstanden, wenn St.Pauli-Fans das Abschneiden des hsv als “Egal” bezeichnet haben. Dafür (siehe oben) war seine Präsenz zu mächtig, die vor sich her getragene Arroganz seiner Fans zu präsent. Das beharren auf Tradition und gleichzeitig abschätzige Belächeln von Vereinen wie RaBa Leipzig, während man selbst mit hsv Plus auf die Fresse gefallen ist und am Tropf von Kühne hängt.
Die Uhr, der Dino. Mehr Glück als Verstand, immer wieder.
Verbrennen von Geld, Inkompetenz ohne Ende.

All dies schrie danach, sie endlich ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Und jetzt ist sie endlich da.

Nie mehr Deutscher Meister.
Nie mehr Pokalsieger.
Endlich zweite Liga – hsv!

Und doch ist damit (endlich!) für mich auch die Geschichte beendet.
Jetzt endlich ist mir der hsv egal. Mit dem Abpfiff am Samstag um 17.35h (den ich übrigens auf der Autobahn in der NDR2-Konferenz erlebte, auf der Rückfahrt meiner Schiedsrichter-Tätigkeit) ist das vorletzte Kapitel geschrieben worden, dieser Blog-Artikel ist das letzte Kapitel.
Ähnlich, wie es damals die Verarbeitung des Kutzop-Elfmeters hier im Blog war. Ich rede ja inzwischen wieder mit meiner Mama.
Der hsv ist mir endlich egal.
Vielleicht muss ich mir das aktuell noch ein bisschen einreden, aber spätestens wenn dann der Zweitliga-Spielplan rauskommt und dieser Artikel dann ja auch schon ein paar Wochen alt ist, werde ich es verinnerlicht haben.

Nicht falsch verstehen: Ich werde mich weiterhin an seinen Niederlagen erfreuen. Ich will nächste Saison in den beiden Derbys mindestens vier Punkte holen und in der Tabelle am Ende vor ihnen stehen (und gleichzeitig besser als Platz 16, bevor der Fußballgott da eine Formulierungslücke sucht).
Aber: Das Abschneiden des hsv beeinträchtigt meine Stimmungslage jetzt auch nicht mehr oder weniger als die Ergebnisse von Braunschweig, Kaiserslautern oder Hansa Rostock.
Die finde ich alle doof, den hsv auch, passt schon.
Wenn “die” nächste Saison tatsächlich wieder aufsteigen sollten (wie es die Facebook-Aufstiegsfeier Termine ja erwarten lassen) – dann ist das so.
Wenn die dann im Verlauf der Jahre in den Europapokal einziehen, die Liga dominieren und die Champions League holen – sollen sie. Vielleicht erfreut sich der ein oder andere 1860-Fan dann daran.

Wer weiß, vielleicht schreibe ich ab nächster Saison dann die Buchstaben sogar mal groß – aber ich will nichts versprechen, was ich dann vielleicht doch nicht halten kann.

Endlich zweite Liga, endlich egal.

Liebe Grüße an Mama, ich weiß wie sehr es auch Dich gefreut hat. // Frodo

P.S. Liebe hsv-Fans, wir wissen alle, dass Ihr ganz tolle Leute seid und Euer Verein der Beste ist und dies alles nur ein großes Missverständnis, verschuldet von allen Anderen. Passt schon, ist okay, ich will Euch gar nicht vom Gegenteil überzeugen.
Beleidigungen in den Kommentaren werden trotzdem auch weiterhin nicht freigeschaltet.
P.P.S. In der Vergangenheit gab es einen eigentlich unverzeihlichen Vorfall mit einer Ticketbestellung eines effzeh-fans, die zu einem Sieg des hsv führte, der nie hätte passieren dürfen. Ich habe diesem effzeh-Fan diesen Faux-Pas lange vorgehalten – und möchte auch diese Geschichte hiermit feierlich und für alle Zeit beerdigen.
Alles wird gut, Axel!

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