Respekt, Digga!

Dieser Artikel erschien bereits im Print-Übersteiger #117, am 22.08.2014.

Respekt! Wir alle verlangen ihn, erwarten ihn und wir reagieren meist sehr angegriffen und empfindlich, wenn er ausbleibt. Er wird in etlichen Songs thematisiert und ist Teil der Sprache einiger Jugendszene geworden. Gefühlt war er nie so sehr beschworen und gleichzeitig scheinbar so absent wie heute…..

Ob das wirklich so ist oder wie immer früher eben alles besser war, vermag ich nicht zu beurteilen. Einen respektvollen Umgang miteinander stelle ich an vielen Stellen gleichwohl derzeit halt nicht fest. Und interessant ist, dass viele Leute Respekt einfordern, jedoch meist nur den Respekt für ihre eigene Person oder ihr Tun und Denken meinen. Respekt zu GEBEN wiederum scheint unpopulärer denn je. Respekt als Einbahnstraße….

Wutbürger

Vielmehr mutet es an, dass je zynischer, brutaler, unerbittlicher und strikter, desto cooler. Menschlichkeit und Wärme zu zeigen, ist hippie. Dann bist Du Gutmensch.

Cool und lässig, schlagfertig und distanziert…. über den Dingen. So soll es sein. Was man sich an Emotionen leisten darf: Wütend sein, sich aufregen. Das gehört mittlerweile dazu. Und in der Wut sich übertreffen mit hasserfüllten und teilweise menschenverachtenden Aussagen. Männlichkeitsgehabe! Pimmelfechten!

Ob im Straßenverkehr, am Stammtisch, in Stadien, im Beruf, im Alltag, in sozialen Netzwerken und in Kommentarspalten zu Presseartikeln. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich nur nicht mehr….

Ingo Zamperoni’s Smile

Beispiele? Weisst Du noch? Halbfinale EURO 2012 in der Ukraine / in Polen? Die DFB-Elf spielt gegen Italien. Zur Pause steht es 0:2 für Italien und es kommt die Tagesschau. Ingo Zamperoni verliest die Nachrichten und wagt es, bei der Meldung zum Italienspiel, zu lächeln.

Er lächelt, sonst nichts. Grund genug für tausende von Deutschen einen Shitstorm sondergleichen gegen die ARD abzusetzen. Was der sich denn einbilde. Er soll mal Respekt haben gegenüber dem Land, in dem er lebt. Dass man aber auch ihm gegenüber Respekt aufbringen könnte?

WM 2010 in Südafrika. Die DFB-Elf tritt leider mal wieder gegen Portugal an (denen ich – wenn überhaupt –  meist die Daumen halte). Portugal verliert wie immer und hunderte von Deutschen, die das Spiel im Portugiesenviertel sahen, dort bei Portugiesen zu Gast waren, portugiesischen Vinho oder portugiesisches Sagres trinken, portugiesischen Bacalhau genießen, rennen hinterher grölend durchs Viertel und singen zur Melodie von „When the Saints…“: „Ihr seid grün, ihr seid rot, ihr seht aus wie ein Idiot!“.
Der Sieg reicht nicht, es muss eine Demütigung werden!

Passt zu Gaucho-Gate? Lächerlich… ja irgendwie schon. Diesem peinlichen Ballermann-Kapitel der deutschen National-Elf der Männer wurde wohl wirklich zu viel Bedeutung beigemessen. Und doch… nicht die Berichterstattung über den würdelosen Song ist das Phänomen, sondern die empörten Shitstorms, die sich danach an die „Lügenpresse“ richten. Wären sie sachlich? Alles gut. Nein, sie sind überwiegend beleidigend und hetzen gegen die Journaille, die es wagt, „Spielverderber“ zu sein. Kaum ein Posting in diversen Sozialen Netzwerken oder den Homepages der Presse, die nicht mit „Armes Deutschland“ oder „Gutmenschen“ und „linksgrün versiffter gleichgeschalteter Presse“ beginnen oder enden. Durch „Fakt ist….“ Wird belegt. Beleidigungen und empörtem Entsetzen, dass man ja nun nicht mehr den Gegner beleidigen dürfe. Übertriebene Empörung auf Seiten der Kritiker am Tanz? Vermutlich schon, aber die Reaktionen sind das eigentliche Phänomen. Man hat Jahre auf diesen Titel hingefiebert und nun ist alles dahin, weil 10 Zeitungen einen Tanz verurteilen? Wo sind Selbstironie und Humor? Mein Kurvennachbar und ein famoser Mensch, der Blogger Erik Hauth, schrieb sehr klug.

Er möchte nicht der “hässliche Deutsche” genannt werden, aber anstatt sich schön zu machen, kämpft er verbissen darum, hässlich sein zu dürfen.

German Angst

Was geht hier schief mit unserem „entspannten Partypatriotismus“? Und warum findet er nur zur WM der Männermannschaft statt? Korsos bei Europameisterschaftstitel der U19 vier Wochen später? Nix! Frauen-WM? Ist halt was für Männer, heißt es dann gerne. Goldmedaille für Dressurreiter? Schwul! Geht es um Fußball oder doch um mehr? Um Identität, Stolz und den ganzen Scheiss?

Özil ist nur dann gut fürs Team, wenn er liefert, ansonsten „wie der schon aussieht oder über den Platz trabt!“. Genauso Boateng, der mehr als nur einmal „Bruder Leichtfuß“ genannt wurde. Weil er PoC ist? Führt man so etwas in Diskussionen an, kann man durchaus was erleben. Da wird man vom vaterlandsloser Gesellen zum Spielverderber („man wird doch einmal vier Wochen Fußball gucken dürfen, ohne ständig an so etwas denken zu müssen“) oder einfach durchbeleidigt.

Man wird doch einmal im Jahr ein Arschloch sein dürfen, oder was? Will man eigentlich immer Arschloch sein, traut sich aber nicht? Ist es zum Turnier gesellschaftlich akzeptiert, weil dann so viele draußen Arschlöcher sind?

Eine Schülerin fordert beim Spiel gegen Ghana über Twitter zur Halbzeit „Hoffentlich sterben paar Schwarze mitten auf den Spielfeld an AIDS“ (sic!).
Sind natürlich immer Einzelfälle. Die Schülerin hat sich authentisch entschuldigt, interessanter waren die Reaktionen. Shitstorm. Wieder! Zehntausende. Nun sei auch mal gut, das kann ja in der Spannung des Spiels mal rausrutschen. Echt? DAS?

Aber auch die Empörung über die Verteidigung der Urheberin dieses Tweets schoss deutlich übers Ziel. Bomber Harris solle mal die Kartoffeln wieder wegbomben. Wäre mal Zeit.
Bitte, was geht da schief in den Köpfen?

Ein Schland-Mob überfällt direkt nach dem Finale das Shebeen wo harmlos Fußball geschaut und gegrillt wird. Aber die Party darf nicht verdorben werden. Deshalb waren das ja nun HSV-Hools. Mit Deutschland hat das ja nix zu tun. Immer wie es gerade passt.

Patriotismus ist der kleine Bruder von Nationalismus und alle Formen von Verteidigung desselben gehen schief. Verfassungspatriot, okay. Nationalpatriot? Stolz? Der Schritt in bedenkliche Ecken ist dann schnell getan. “Dummheit und Stolz wachsen aus dem selben Holz“ sagte meine Oma. Und Omi hatte immer recht!

Übrigens: Nur weil andere Menschen von hier oder aus anderen Nationen sich nicht benehmen können, heißt das nicht, dass man das auch darf. „Aber Kevin-Tobias hat zuerst mit Matsche geschmissen!

Würde und Größe entstehen durch Disziplin und Respekt, nicht durch Copy & Paste von Scheiße. Wenn alle falsch parken, ist es nicht plötzlich erlaubt… Und wann wurde mal ein Arschloch bewundert (oh halt, Putin…)?

Kleiner Einschub: Wenn zur WM geböllert wird, ist‘s ne tolle Partynacht, im Rest des Jahres schimpfen die gleichen Idioten auf div. Ultraszenen und bezeichnen sie als „sogenannte Fans“ oder „Randalierer“ und ein Bengalo sind sofort „Ausschreitungen“. Mal Silvester am Hafen gewesen? Die Vögel schießen ihr Zeug direkt über Köpfe ab. Coole Party. Kein Wendt motzt.  Machen es Ultras geplant, mit Leuchtfeuerwerk und nicht Raketen oder Böllern, in ihren eigenen Reihen, in ihren Kurven, denkt wieder keiner an die Kinder.

Wo sind die Mechanismen, die uns sagen, dass man Dinge nicht tut? Wo ist das eigene Störgefühl. Was macht uns so viel Spaß, zu verletzen und Menschen abzuqualifizieren? Oder gar sie physisch zu verletzen? Wo ist die Empathie? Das was uns vom Tier unterscheidet?

Ich bin ratlos und wittere einen unfassbar großen Minderwertigkeitskomplex. Das „Wir sind wieder wer…“ treibt wohl vieles um. Warum ist das so wichtig, „wer“ zu sein. Ich bin doch wer, weil ich hier gerade schreibe, weil ich lebe, esse, trinke, gesellig bin und liebe. Und nicht weil andere ein Fußballspiel gewinnen, welches mein Leben nicht beeinflusst oder ich gar irgendwen oder irgendwas hasse. Immer auf der Suche, nach einem dem es besser geht und der das nicht verdient hat… Özil, Boateng, Gomez… Sind auch immer alle „überschätzt„. Die Bio-„Weißen“ dagegen meist nicht so…

War es nicht das Privileg des Bürgertums, des Konservativismus, Respekt einzufordern? Disziplin und Umgangsformen? Ggf. manchmal etwas unauthentisch, aber das Gerüst gab einen moralischen Kompass mit. Ein „das macht man nicht“ muss nicht immer nur restriktiv sein, es kann auch stützen. Und nun? Orientierungslosigkeit, Sarrazin, man wird doch wohl mal sagen dürfen, “Fakt ist…” und AfD-Weisheiten, die alle immer mehr in die Mitte der Gesellschaft rücken. Vor der NPD habe ich keine Angst, vor wutbürgerlichen AfDlern viel mehr. Sie höhlen unser Wertesystem aus. Ein guter Mensch ist mittlerweile ein Schimpfwort und sich selbst als  Pazifisten bezeichnende Menschen gehen als Querfront mit Neurechten für Putin demonstrieren. Ist klar!

Am meisten erschreckend ist für mich die Unerbittlichkeit, das Unversöhnliche. Als wenn riesige Verletzungen vorliegen? The good old german Angst?

Ganz brandaktuell: Nahost und Ukraine,
Da wissen wir Bescheid und interpretieren jedes Ereignis so, dass es in unser Weltbild passt. Anti-Putin. Pro-Putin, Anti-USA, Anti-Israel, Antisemitisch, Anti-Muslimisch und was weiß ich. Erstaunlich. Wirklich erstaunlich, wie wir derartig komplexe Umstände und historische Entwicklungen mal eben in Gänze erfassen können. Keine Ahnung, aber sofort ne Meinung. Und wenn Fakten kommen, die nicht passen? Propaganda!

Koalitionen aus interessanten Gruppierungen auf allen verfügbaren Seiten, die eines eint: Kein Respekt, keine Empathie. Weder vor Menschen, noch vor Themen. Der Gegner ist immer ein Monster, Vergehen der eigenen Seite sind immer Einzelfälle und im Prinzip ja verständlich, weil Kevin-Tobias schließlich zuerst mit Matsche geschmissen hat. Die sind auch sonst nie da. Kommt einem bekannt vor, oder?

Linksversifftes Zeckenpack

Und bei uns?
Da ist immer alles super. Wir sind ja die linken lustigen „Paulis“. Immer respektvoll und  moralisch. SA-Vergleiche bei der „Bullen-aus der-Kurven“-Diskussion? Unerbittlich und unversöhnlich. Die Süd bezeichnet die Cottbusser als Nazis (die haben SIEG HEIL bei uns in der Kurve hochgehalten!!) und das Stadion pfeift unsere eigenen Jungs aus? Bei der Kassenrolle? Knast wurde gefordert. Lebenslanges Stadionverbot. Wegen einer Kassenrolle, die Teil einer Choreo war! Für einen Jugendlichen, der sich selber stellte. Fast jede einigermaßen kontroverse Diskussion in unseren eigenen Foren rutscht auf bedenkliches Niveau und zu den großen Länderturnieren bekleckern sich nicht alle St. Paulianer mit Ruhm. Auch beim Davidwachenüberfall, bei, Schweinske-Cup und bei der Demo am 21.12. letzten Jahres gibt es viele aus unseren Reihen, die keine Ahnung haben, aber sofort ne Meinung. Und es wird immer fröhlicher gepfiffen, wenn das Spiel unserer Mannschaft nicht gleich tiki-taka-abgeht. Und was das “Aktionsbündnis gegen Homophobie und Sexismus” St. Pauli jüngst und immer mehr zu Verhalten in unseren Kurven äußern muss, stimmt einen auch bedenklich.

Andreas Biermann

Und ein St.Pauli-Thema mit leider aktuellem Bezug: Der arme Andreas Biermann hat nun seinem schweren Leben mit 34 Jahren ein Ende bereitet. Möge es dort, wo auch immer er ist, nun besser für ihn sein.

Wer weiß es noch? Februar 2009. Heimspiel gegen Greuther Fürth. Andreas Biermann in der Startelf. Das erste und einzige Mal in jener Saison. Schon zur Pause steht es 0:2. Biermanns Spiel ist glücklos und fehlerbehaftet. Nun folgt das, wie ich es empfand: Das Stadion sucht einen Schuldigen und findet ihn in Biermann. Es wird geschimpft, lautstark nach seiner Auswechselung verlangt und als er kurz vor der Halbzeit verletzungsbedingt (!) raus musste, sehr deutlich und betont erleichtert applaudiert.

Hysterisch? War doch ganz anders? Mag sein. Es gibt aber mindestens einen Menschen, der es so empfand. Mich.

Wer schließt aus, dass es noch einen zweiten gab? Und wer schließt aus, dass dieser zweite vielleicht ausgerechnet Andreas war? Wer schließt aus, dass solch ein Verhalten von sonst so treuen Fußballfans ein Mosaikstück auf seinem Weg zu der aktuellen tragischen Entwicklung war? Dass wir ihn nicht stützten? Dass wir den Erfolg über Menschlichkeit stellten? War es so? Haben wir Schuld? Beantworte Du!

Und denk daran, wenn jemand die Mannschaft auspfeift oder mal wieder Kalla beschimpft. Wir wissen nicht, wie diese Menschen das aufnehmen. Muss ich Mitleid haben mit einem „mehrfachen Millionär, der sein Hobby zum Beruf gemacht hat?“ Na klar. Remember Biermann oder Enke. Weil es Menschen sind. Muss ein Arbeits- und Obdachloser vor Dir keinen Respekt haben? Für ihn bist Du der Millionär!

Was will ich sagen: Sei Dir bewusst, was Du tust, wenn Du Menschen beschimpfst und abqualifizierst!

Face the Facts

Aber man wird doch noch… Ja, seine Meinung darf man natürlich sagen. Erst recht bei uns. Man darf auch diskutieren und auch leidenschaftlich oder gar grimmig. Aber bewertet werden sollten die Aussagen von Menschen und ihre Handlungen, nicht der Mensch an sich. Und schon gar nicht Menschengruppen. Der Italiener, der sich immer hinschmeißt, der Pole, der immer klaut, der arrogante Franzose etc. Nicht mal im Spaß!!

Sind alle Muslime an Al Quaida oder Hamas schuld? Sind die meisten Deutschen dann auch schuld, was die USA machen? Oder Russland? Sind schließlich alles Christen.

Was bin ich? Ab wann bin ich Deutsch? Meine Vorfahren sind Hugenotten, also Franzosen, die durch den ollen Fritz vor 300 Jahren nach Pogromen in Frankreich nach Preußen rein gelassen wurden. Wenn die in Deutschland viel, viel länger lebenden Juden für Israel verantwortlich sind, muss ich jetzt hoffen, dass François Hollande keine Scheiße baut, weil der Mob dann mich beschimpft? Oder gilt das nur für Juden und Muslime?

Wir fordern immer gerne Differenzierung und …eben Respekt, wenn es um uns geht. Wir müssen ihn aber auch geben. Dann verdienen wir ihn.

Don’t judge a book by it’s cover

Bewerten wir das, was ist und nicht das, was das Monster in unseren Köpfen draus macht. Bewerten wir immer nur Worte und Taten. Und wirklich nur diese. Ganz pur. Und interpretieren diese nicht um dann beleidigt zu sein über unsere eigenen Gedanken.

Fragen wir nach, wie etwas gemeint ist. Immer wieder. W-Fragen (Wieso? Wie genau soll das gehen? Wie stellst Du Dir das vor? Was passiert dann?). Nachfragen. Nicht lospoltern! Die mit den kruden Gedanken entlarven sich beim Nachfragen meist selber sehr schnell, verheddern sich und machen sich lächerlich. Solche Aussagen dann stehenlassen. Die sprechen für sich selber. Beurteilen wir erst dann, wenn wir verstanden haben. Und das Verstehen bereichert. Wir haben dann weniger Streit!

Respekt bedeutet, sich in andere Personen und ihre Sichten der Dinge hineinzuversetzen. Das muss nicht immer gelingen, aber der Versuch ist nicht nur nett, sondern auch bereichernd, denn man lernt etwas und sieht viele Dinge aus anderen Perspektiven und letztendlich dann auch viel entspannter.

Ich kann es auch noch nicht, aber ich versuche es. Ich möchte nämlich irgendwann ein Humanist sein. Ein Gutmensch.

Forza St. Pauli – Wir sind die Guten! // Mirco

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