Gastartikel von GingerFail
Na endlich… am 16. November 2014 haben wir nun die Qual der Wahl… oder besser gesagt: die Mitglieder des FC St. Pauli haben das Glück, die täglichen Geschicke ihres Vereins noch aktiv basisdemokratisch mitgestalten zu können. Dies können sie über die Wahl von Vertreter*innen in die Führungsgremien unseres magischen FC St. Pauli von 1910 e.V.. Allein mit letzterem Kürzel sind wir mittlerweile – leider – gegenüber vielen anderen Vereinen der Bundesliga in einer privilegierten Position, doch dazu mehr an anderer Stelle.
Das vom noch amtierenden Aufsichtsrat vorgeschlagene designierte Präsidium unter Führung von Oke Göttlich hat sich am 16. November 2014 dem Mitgliedervotum ebenso zu stellen, wie auch und insbesondere sage und schreibe 16 Kandidat*innen aus der Mitgliedschaft, welche direkt für 7 Positionen im neu zu wählenden Aufsichtsrat kandidieren.
Die zur Wahl stehenden Personen werden in Foren und Blogs und Mainstream-Medien ausgiebig, inklusive Geschlechterquoten- und Sympathiefrage, Gruppenzugehörigkeit und Stallgeruch und auch mit Spekulationen um vermeintlichen Machtgewinn- und –ausbau möglicher Strippenzieher*innen im Hintergrund rauf und runter diskutiert, aufgewertet oder abgeurteilt. Die AFM-Abteilungsleitung wird als gewähltes Vertretungsgremium dafür angegangen, ihren Mitgliedern eine Wahlempfehlung zu geben, andere Gremien werden dafür kritisiert, ebendies nicht zu tun. Oke Göttlich und sein Team werden dafür kritisiert, vom Aufsichtsrat für das Amt vorgeschlagen worden zu sein und ihre Pläne nicht zu konkretisieren, bevor sie überhaupt einen tieferen Einblick in die tägliche Arbeit gewinnen konnten, welcher fundiertere Aussagen erlauben würde.
Ein noch amtierendes und zweifellos erfolgreiches, aber scheidendes Präsidium gießt mit fast beleidigt anmutenden Interviews in Mainstream-Medien nochmal unnötig plump Öl ins erloschene Feuer einer längst vergangenen „Schlacht“ und macht einem Nachfolge-Team den Amtsantritt damit unnötig schwer. Dennoch offenbart die schiere Tatsache, dass sich ein scheidendes Präsidium auf diese Art meint äußern zu müssen, und damit ganz offensichtlich auch laut Kommentarspalten ungeahnt viel Zuspruch erntet, eines ganz besonders: dass der größtenteils scheidende Aufsichtsrat mit seiner Entscheidung, das Präsidium um Stefan Orth nicht für eine erneute Amtszeit vorzuschlagen, Teile der Mitgliedschaft unseres Vereins ganz amtlich vor den Kopf gestoßen und seither nicht genügend abgeholt hat.
Orth vs Göttlich?
Schonmal vorab: ich kann die Entscheidung des Aufsichtsrats nachvollziehen. Sie überzeugt mich nicht, da sie irgendwie auch ein „Geschmäckle“ hat, als ob sich da in einer „jetzt oder nie“ Stimmung ein paar scheidende Aufsichtsräte noch ein Denkmal setzen wollten. Andererseits war eben trotz aller wirklich erfolgreichen Arbeit des Präsidiums um Stefan Orth bei weitem nicht alles Gold was glänzt und deshalb finde ich die Konsequenz daraus aus Sicht eines Aufsichtsrats, der deutlich mehr Einblick in die Interna unseres Vereins hat, als ich dies wohl je haben werde, nachvollziehbar. Wir sind für die Ära „nach Orth“ wirtschaftlich, zumindest oberflächlich gesehen, wohl so gut aufgestellt wie selten zuvor, keine Frage. Ein nationaler Fankongress unter Mitwirkung unseres aktuellen Präsidiums erarbeitete wegweisende Leitlinien, welche heute die Grundlage für viele vereinspolitische Entscheidungen der Geschäftsführung bilden. Die Crowdfunding-Plattform KIEZHELDEN ist entstanden und schafft vielen sozialen Projekten im Viertel neue Sichtbarkeit und Mittel. Südkurve, Gegengerade und Haupttribüne, und das neue Funktionsgebäude an der Kollaustrasse sind fertig, der Neubau der Nordkurve, das Museum und die Polizeiwache sind in den Startlöchern. Soweit, so gut.
Allerdings stagnieren wir nicht nur im sportlichen Bereich seit Jahren. Es fehlte dem scheidenden Präsidium an einer längerfristigen Vision, wie man in einem Umfeld mit den Red Bull Leipzigs dieser Welt und einer kommerziell immer rücksichtsloseren Vermarktungslogik der Bundesligen noch den sozial verantwortlichen Charakter und Bezug zur Basis, also die grundlegende Identität und damit auch schon wieder das Alleinstellungsmerkmal gerade unseres FC St Pauli bewahren und mit sportlichem Erfolg vereinen kann.
Und dass gerade an dieser Schnittstelle vieles mindestens holprig lief, hat nicht zuletzt die wohl deutschlandweit einmalige Wutkampagne „Jolly Rouge“ gezeigt, als das ganze Millerntor ebenjenes Präsidium für Grenzüberschreitungen und Ignoranz der Basis zugunsten der Profitmaximierung empfindlich abstrafte. Dies setzte sich fort mit eher selbstgefälligen Auftritten dieses Präsidiums im Rahmen der Sicherheitsdebatte rund um das Sicherheitspapier der DFL 2012. Da fühlte sich ebenjene und noch dazu eine sehr breite Basis an Fans und Mitgliedern quer durch die Bank genötigt, das Präsidium unter Stefan Orth zum Höhepunkt mittels eines kontroversen Abwahlantrags daran zu erinnern, Mitglieder- und Fan-Interessen in der Debatte ernster zu nehmen. Das Präsidium musste aufgefordert werden, sich bei diesen zentralen Themen für die Zukunft des Vereins nicht von populistischen Forderungen treiben zu lassen und über die Köpfe des höchsten Organs des Vereins und die Fans hinweg, sondern für und in engem Austausch mit seiner Mitgliedschaft zu agieren.
Ebenjenes amtierende Präsidium war es auch, welches – wiederum nur nach massivem Druck der Mitglieder und eben nicht aus eigenem Antrieb – den Weg für ein Vereinsmuseum statt einer Polizeiwache in unserem Millerntorstadion frei machte… und genau dessen Verzögerungshaltung in der Frage uns jetzt womöglich einiges an zusätzlichen Kosten für die Polizeiwache verursachen wird. Und auch im Rahmen des Ausbaus der Kollaustrasse musste ein Untersuchungsausschuss erst letztes Jahr deutliche Mehrausgaben verursacht durch mangelndes Projektmanagement eines vom Präsidium bestellten Sportdirektors Helmut Schulte feststellen. Von den Herausforderungen und Risiken durch den gerade über die Infrastrukturprojekte angehäuften Schuldenberg, der uns nun über Jahrzehnte binden wird, will ich jetzt mal die Finger lassen. Das würde in einem ohnehin sehr weit führenden Beitrag dann doch viel zu weit führen. Nur so viel: da sind die ansonsten schwarzen Zahlen zwar beruhigend, aber ich möchte mir das Szenario eines Abstiegs, auch finanziell, dann lieber nicht vorstellen….
Wir sind dran schuld, dass der Aufsichtsrat so ist
Dies alles macht die Bilanz des scheidenden Präsidiums unter dem Strich aber meines Erachtens dennoch nicht schlecht, sicher nicht! Und vor allem haben sie nach den letzten Schüssen vor den Bug dazugelernt. Aber viele Menschen und vor allem Medien sind dieser Tage offenbar geneigt, die einen Dinge schnell zu vergessen und andere Dinge in einer Art Schwarz-Weiß Logik darstellen zu müssen.
Genau das Gegenteil eben dieser Perspektive, ist aber nun Aufgabe eines Aufsichtsrats, ob beim FC St Pauli oder anderswo. Die Mitgliedschaft des FC St Pauli hat den amtierenden Aufsichtsratsmitgliedern ihr Vertrauen ausgesprochen und ihnen damit teils vor vielen Jahren zum ersten Mal den Auftrag erteilt, die Arbeit des Präsidiums und der Geschäftsstelle, zu überwachen und zu kontrollieren und diese ggfs zu beraten – zum Wohl des Vereins und letztlich der Mitgliedschaft unseres FC St Pauli.
Qua Arbeitsauftrag sollten oder müssen wir den Vertreter*innen des Aufsichtsrates daher meines Erachtens einerseits sogar zugestehen, dass sie zur Bewertung ihrer Entscheidungen über ein ungleich größeres Wissen über die Amtsführung des Präsidiums und seiner ausführenden Organe und handelnden Personen verfügen, als dies das gemeine Mitglied tun kann. Dass sie dieses Wissen nicht immer mit uns allen teilen können oder wollen, kann mit Verschwiegenheitsverpflichtungen qua Amt zu tun haben. Oder kann es sogar schlicht an der hoffentlich löblichen Tatsache liegen, dass der amtierende Aufsichtsrat kontroverse Fragen zum Wohle des Vereinsfriedens und im Sinne seiner Beratungsfunktion eben nicht in öffentlichen, profilneurotischen Schlammschlachten sondern lieber vertraulich und partnerschaftlich mit dem Präsidium klären möchte?
Trifft ein gewählter und damit von der Mitgliedschaft legitimierter Aufsichtsrat mit einer so vielschichtigen Zusammensetzung aus allen Ecken der Mitgliedschaft wie im FC St Pauli daher einstimmig eine so weitreichende Entscheidung, ein Präsidium um Stefan Orth nicht mehr zur Wiederwahl vorzuschlagen und sich stattdessen für Oke Göttlich und sein Team auszusprechen, dann möchte und muss ich als Mitglied – auch wenn ich das oberflächlich womöglich zunächst irritierend finde – doch davon ausgehen können, dass eine solche Entscheidung in allererster Linie auf Basis von jahrelanger Sachkenntnis und Fachkompetenz der handelnden Aufsichtsräte qua Amt und zum Wohle des Vereins getroffen wurde. Und dass es sogar sehr wahrscheinlich ist, dass diese Kenntnisse und Kompetenzen tiefer gehen, als ich womöglich je blicken kann.
Ich möchte mir eben nicht mit einem Blick von außen oder durch Medienberichte und Forendiskussionen geprägt anmaßen, die Verhältnisse im Verein auch nur ansatzweise so gut zu kennen, wie die Menschen, die dazu gewählt wurden, sich für mich als Mitglied genau damit tagtäglich zu befassen…. egal wie sehr sogenannte Journalist*innen mir dies mit angeblichem Insiderwissen auch vorgaukeln mögen. Und in diesem Sinne finde ich es in der durch die Mitgliedschaft gegebenen Satzung nur folgerichtig, dass ebenjene basisdemokratisch gewählten Mitglieder des Aufsichtsrates der Mitgliedschaft gemeinsam ein Präsidium zur Wahl vorschlagen. Denn sie haben wir dazu gewählt, sich die nötige Erfahrung, die jahrelange Sach- und Fachkenntnis anzueignen, adäquat und unabhängig von kurzfristigen, polemischen öffentlichkeitswirksamen Kampagnen, Machtinteressen oder Empörungen Einzelner, ein geeignetes Team auszuwählen, welches unseren Verein professionell führen kann.
Klassenkampf oder doch Politbüro?
Und da kommen wir auch schon (oder endlich) zur Zukunft und dem Privileg der Wahl: wen der 16 Vertreter*innen für eben dieses wichtige Gremium Aufsichtsrat unseres FC St. Pauli sollen wir wählen? Dass sich gerade die Vertreter*innen von Gremien und Abteilungen mit Empfehlungen an dieser Debatte öffentlich beteiligen, halte ich dabei für äußerst legitim und hilfreich. Gerade von gewählten Vertreter*innen aus den Abteilungen erwarte ich dies im Sinne der Demokratie als gemeines Mitglied sogar.
Sie wurden demokratisch doch genau dafür legitimiert: sich um das Wohl ihrer Abteilung und ihrer Mitglieder innerhalb des Vereins zu kümmern. Sie kennen das Innenleben des Gesamtkonstruktes aus täglicher Arbeit ungleich besser als die meisten von uns. Viele viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit werden von vielen großartigen Menschen in genau diesen Auftrag seitens der Mitglieder investiert. Und sie verdienen es schon deshalb, dass wir ihnen mindestens genau zuhören und bestenfalls ihrer Kompetenz und Detailkenntnis vertrauen. Die Aussprache von Wahlempfehlungen auf eine Diskussion um Machtfragen und –interessen ganzer Abteilungen zu reduzieren, greift mir dabei deutlich zu kurz und wird diesen Vertreter*innen eben – in der Regel – nicht gerecht.
Demgegenüber würden mich Empfehlungen von Sponsor*innen und Medienkampagnen nicht demokratisch legitmierter Personen oder Zirkel aus dem Vereinsumfeld viel eher verdammt misstrauisch machen – denn allzu wahrscheinlich ist, dass diese von klaren Profitinteressen gesteuert sind, die eben nicht in erster Linie dem Wohl des FC St. Pauli sondern vielmehr dem externer, kommerzieller Firmen verpflichtet sind. In welche Täler derlei Rattenfänger führen, darf man im andauernden Demontageprozess nahe der Müllverbrennungsanlage in der Vorstadt mitverfolgen – sorry, heißt ja jetzt HSV AG. Und wer dabei auch hierzulande glaubt, dass Ausgliederung der neue Europapokal ist: in Spanien und in verschiedenen anderen Ländern, inklusive England, kann man schön sehen, dass genau diese Wirtschaftsform gerade ökonomisch langfristig deutlich schädlicher für die Vereine ist, als für jene Vereine, die sich vor Jahren bewusst für mehr Kontrolle und Identität durch Demokratie in Form eines e.V. entschieden haben.
Ich vertraue sehr darauf, dass wir das bei unserem magischen FC gemeinsam besser können und als Mitgliedschaft weitsichtiger und besonnener und mindestens weiter demokratisch agieren.
So, wen wählen wir denn nu?
Wen man/frau nun am Ende wählt – diese Frage kann, sollte und muss jedes Mitglied nur für sich selbst bis 16. November 2014 beantworten und verantworten. Darum geht’s schließlich in einer Demokratie. Ich würde mir aber gerade deshalb eine Wahlentscheidung nicht auf Basis von Geschlecht oder persönlichen Sympathiepunkten oder Gruppenzugehörigkeit wünschen, sondern vielmehr in entscheidenden Sachfragen:
- Wenn die Hauptaufgabe eines Aufsichtsrats Kontrolle, Überwachung und Beratung des Präsidiums und der Geschäftsstelle eines Bundesligavereins ist – also vor allem Verträge prüfen, hunderttausende Euro schwere Rechtsgeschäfte absegnen, Personalfragen klären… wer von den Kandidat*innen bringt für diese Rolle die nötige Kenntnis des Vereins…und gleichzeitig die fachliche Kompetenz qua beruflichem Profil, mit?
- Wer ist vielleicht einfach mega-sympathisch und langjährig in und um den Verein präsent, aber hat die nötige fachliche Qualifikation für die Aufgaben schlichtweg nicht? Ist eine Dauerkarte über Jahre oder Bekanntheit im Viertel oder in der Fanszene genug für eine Position und die zuallererst juristisch-ökonomischen Kontroll-Aufgaben und Gremienarbeit im Aufsichtsrat?
- Wer sind die Teamplayer unter den Bewerber*innen und wer von ihnen erscheint am ehesten in der Lage, gemeinschaftlich und partnerschaftlich mit den anderen Vereinsgremien aufrichtig am Wohl unseres FC St Pauli interessiert?
- Wer verfolgt demgegenüber womöglich schon rhetorisch in erster Linie eine von Eigeninteressen gesteuerte Agenda und möchte sich selbst (oder eine Firma) vermarkten oder an einer finanziell entscheidenden Schnittstelle platzieren?
In all diesen derzeit umhergeisternden Artikeln, geifernden Kommentarspalten und Threads kommen mir nüchterne Fragen wie diese derzeit noch deutlich zu kurz. Wenn wir als Mitglieder doch Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft unseres Vereins jenseits von Meinungsmache haben und übernehmen wollen, wären Empörung oder Misstrauen gegenüber aktuell handelnden, von uns nicht zuletzt gewählten Akteur*innen, schlechte Ratgeber für eine Entscheidung.
Die Vorstellung am Dienstag hat gezeigt: es gibt sehr viele sehr gute und unter der obigen Fragestellung absolut qualifizierte Kandidat*innen unter den 16 Bewerber*innen für den Aufsichtsrat. Das designierte Präsidium klingt überaus motiviert, im Rahmen seiner Möglichkeiten zum jetzigen Zeitpunkt bestens vorbereitet und gewillt, als Team zu lernen und viel Zeit und Herzblut in Strukturarbeit zum Erhalt unseres Vereins in seiner Gesamtheit zu investieren. Wir sollten ihnen die Chance geben, ihren Ansprüchen Taten folgen zu lassen ohne sie mit Misstrauen zu überfrachten. Und wir sollten als Mitglieder eine Lanze brechen für all jene von uns gewählten Vertreter*innen im Aufsichtsrat und in den Gremien der Abteilungen in den letzten Jahren. Sie sind es, die trotz vieler Widrigkeiten und immer ehrenamtlich, in aller Regel im besten Wissen und Gewissen für unseren FC gehandelt haben.
Wir sollten am 16. November dafür sorgen, dass die Aufsichtsräte das auch weiterhin tun können….so wir sie denn weise wählen. Wir haben es in der Hand. Wir sind St Pauli und St Pauli ist schuld, dass wir so sind. // Gastartikel von GingerFail