Wütende Ohnmacht und ohnmächtige Wut…
Am Montag nach den unfassbaren Ereignissen, kam es zu einem ersten Treffen im Jolly. Betroffene, nicht Betroffene und Anwälte waren anwesend. Es war klar, dass etwas passieren musste. Gedächtnisprotokolle wurden ebenso eingereicht, wie kurz darauf Klagen gegen die Stadt Hamburg mit ihrem schwarz-grünen Senat als Dienstherr. Zum Ende des ÜS-Artikels heißt es: „Wir haben jedoch keine Hoffnung, dass die skandalösen Vorfälle juristisch oder politisch aufgeklärt werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“. Wie Recht die beiden Autoren hatten…
Die Solidaritätswelle schwappte nicht vor sich hin, sondern türmte sich zu einem Tsunami auf. Ein Konzert im Knust und ein Soli-Kick zwischen den Frauen-Teams von Altona 93 und den St. Paulianerinnen auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn spülten weitere Gelder zur Braun-Weißen-Hilfe e.v. Zum erwähnten Spiel beim AFC spendete z.B. der Getränkeservice „KGB“ ein 50-Liter-Fass Bier und weitere kleine oder größere Aktionen zeigten, wie „Getrennt in den Farben, – geeint in der Sache“ die Fußballszene ist. Chapeau!
Drei Wochen nach dem Überfall erschien das gemeinsame „Baby“ von Mike, Folke und mir, also unser Buch mit dem schönen Titel „St. Pauli ist die einzige Möglichkeit“. Die erste von zahlreichen Autorenlesungen fand kurz darauf im St. Pauli Clubheim statt, das aus allen Nähten platzte. Es waren auf jeden Fall mehr Leute anwesend, als Zähne in meinem Mund. Das Publikum verzieh meine undeutliche, fast lispelnde Aussprache. Aber Buchstaben wie S, F oder V sind ohne obere Schneidezähne eben schlecht auszusprechen. Ein weiteres Problem: Versucht mal „Oben ohne“ die Oberlippe zu rasieren…
Meinem bisherigen Zahnarzt hatte ich gekündigt und landete schließlich doch bei Medeco in Bahrenfeld. Dr. Große war/ist zwar Fan der Volxparkler, sein Kollege und Kieferchirurg Dr. Wollmann hielt/ hält es allerdings mit meinen Farben. So war Braun-Weiß bei jeder Behandlung in der Überzahl. Nach zwei Terminen stand fest, dass eine OP unausweichlich war. Ich bekam einen Termin im UKE: Am 03.09.! Hey, dieses Datum ist heilig! (Remember 1977). Also konnte ja nichts schief gehen. Doch es ging einiges schief! Zunächst wurde der Termin um eine Woche verschoben. Dann ging es los in „51 Stunden in der Hölle„, wie ich dieses Kapitel in einem noch zu schreibenden Buch nennen werde.
Zur absolut Hossa typischen Zeit rückte ich morgens um 6 Uhr 45 in Eppendorf ein. Mein Bettnachbar stellte sich als fast scheintoter Hundertjähriger heraus. Sein Kopf sah aus, als wenn man ihm einen alten, halben Lederfußball aufgetackert hatte und alle zwei Minuten entwich ihm ein markerschütterndes Röcheln aus seinem verwesenden Körper. Kopf- und Kieferchirurgie hieß die Station. Auf den Fluren nur Monstren, Mumien, Mutationen…
Ich richtete mich soweit es ging ein, startete das hauseigene Internet und meldete mich im Forum an. Als ich die Warterei satt hatte, fragte ich bei der Stationsschwester nach, ob ich denn mal was trinken dürfte. Fünf Minuten später stand sie mit einem doppelten Brandy an meinem Bett. Chapeau!
Um halb drei nachmittags ging es dann endlich los. Zunächst die berühmte „LmaA“-Spritze und dann wurde ich durch die endlos erscheinenden Gänge in den OP geschoben. Kurz vor dem endgültigen Knock-Out vernahm ich noch die Worte: „… und nun denken Sie an was Schönes„. Corsica oder Millerntor? Ich konnte mich nicht entschei……
Keine Ahnung wie spät es war, als ich im Zimmer wieder langsam zu mir kam. Lederkopf schnaufte wieder im Bett neben mir. Eine sms musste an die Liebste raus. „Bn wiiiedr waachhh„, stand dann da. Nun ja, so ganz wach war ich wohl doch noch nicht. Allerdings doch so fit, bei ihr noch zwei Bier zu bestellen, die sie mir am Abend auch mitbrachte. Super-Chapeau!
Dann folgte der absolute Horror-Schock: Wieder traute ich meiner Zunge nicht, als sie am Oberkiefer entlang fuhr, denn nicht nur die Reste der fünf kaputten Zähne waren weg, sondern die gesamte linke obere Seite war zahnlos! Das war doch so nicht vereinbart…!!! Wut! Trauer! Hilflosigkeit! Tränen! Resignation! Wut!
Am nächsten Morgen dann die Visite. Das Wort bedeutet „Besuch“, aber dieser fand nicht im Krankenzimmer statt. In einem an den Fluren angegliederten „Wartezimmer“ sah ich „Gesichter“ mit und ohne oder nur halben Nasen, fehlenden Unterkiefern und eben den alten Mann mit dem Lederball auf dem Kopf.
Ich kam glücklicherweise als Zweiter dran. Mein Entlassungsgesuch lehnte der Mann in Weiß ab, ebenso die Kürzung der Fäden an den OP-Wunden. Ich verließ das UKE-Gelände, entdeckte einen Kiosk und versorgte mich mit dem Nötigsten. Am nächsten Tag durfte ich um halb zehn endlich nach Hause.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen zwei Menschen, die zur der Zeit im UKE arbeiteten: Zum einen Birgit, die ich über unsere Hunde kennengelernt hatte und dort in der Forschung arbeitete. Der andere war Dirk (R.I.P.), den manche vielleicht noch aus dem St. Pauli-Forum mit dem Usernamen „3.9.77“ kennen. Er war ein sogenannter „Bettenschubser“. Beide besuchten mich in den „51 Stunden in der Hölle“ mehrfach. Danke dafür!
Statt in einer fantastischen und realen Welt, lebte ich plötzlich in einer realen Fantasie-Welt. Meine Psyche tanzte fortan Limbo! Beispiele gefällig?
Ich gehe mit Knut spazieren. Es regnet. Eine Frau kommt aus einem Hauseingang und klappt ihren Regenschirm auf. Ich erschrecke mich. Nein, Panik! Ich klebe an der Hauswand. Plötzlich schnelle laute Schritte von hinten. Ich klebe erneut an der Wand. Aber der Mann will nur den Bus kriegen. Ich sitze auf der Toilette und schnäuze mir die Nase. Und stelle mir ernsthaft die Frage: Wohin mit dem Papier? – Klo oder Mülleimer? Ins WC ? Dann versaut es die Meere. In den Müll? Dann wird es verbrannt und raubt mir die Luft zum Atmen. Verdammt, – ich beginne langsam durchzudrehen! „Hallo, hallo, ist dort die Irrenanstalt?“ (Rio und die Scherben) // Hossa
Fortsetzung