Die Spielzeit 2010/11 ist beendet. Endlich ist die Frage beantwortet, wo der freie Fall endet, der nach dem historischen Höhepunkt des Derbysieges einsetzte: Auf Platz 18. Bumms!
Schenkt man der Vereinsführung Glauben, so sei das alles kein Beinbruch. Schließlich stehe das Projekt, sich langfristig unter den Top 25 des deutschen Fußballs zu etablieren, auf soliden Beinen.
Ein Blick auf die Vertragssituation des aktuellen Kaders lässt daran jedoch Zweifel aufkommen. Sage und schreibe zwölf Spieler, die aktuell unter Vertrag stehen, werden nach aktuellem Stand zur neuen Saison nicht dabei sein, weil sie zurück zum ausleihenden Verein gehen, die Karriere beenden oder schlichtweg noch kein neues Vertragsangebot haben. Dazu werden uns wahrscheinlich noch ein paar Spieler in Richtung finanzkräftigerer Klubs verlassen. Da stellt sich natürlich die Frage, warum es bei diesem angeblich dauerhaft ausgelegten Konzept nicht gelungen ist, einen festen Stamm langfristig an den Verein zu binden.
Nun ist es ja nicht so, dass schnöder Dilettantismus beim FC St. Pauli noch irgendeinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken würde. Auch der Übersteiger hätte wahrscheinlich nur ein müdes Kopfschütteln übrig, ginge es einzig und allein darum, dass mal wieder irgendwer bei der Ausübung seiner Kernkompetenz grobe Fahrlässigkeit walten lässt.
Wenn sich allerdings der Eindruck erhärtet, dass mit unseren Lieblingen, die obendrein noch Attribute wie „Urgestein“ und „Identifikationsfigur“ auf sich vereinen, schlecht umgegangen wird, dann stellt sich der Übersteiger auf die Hinterbeine und will es genauer wissen.
Marcel Eger spricht im großen Übersteiger-Interview über seine Berufsauffassung als Fußballprofi, die Verbundenheit zum FC St. Pauli und die Hintergründe seines Abschieds vom besten Klub der Welt.
ÜS: Zur neuen Saison laufen viele Verträge aus, weitere Spieler werden den Verein trotz gültiger Verträge verlassen. Wenn ein Sportchef es nicht hinbekommt, einen Stamm mittelfristig zu binden, kann von außen der Eindruck der Inkompetenz entstehen. Wann hatte die Mannschaft generell und du im Speziellen das erste Mal das Gefühl, “Mensch wann spricht hier eigentlich mal jemand mit uns”?
ME: Normalerweise ist es so, dass sich sowohl die Spieler als auch der Verein zu Beginn des Frühjahrs Gedanken machen, wie es weiter geht. Ich glaube, dass sich der Verein schon sehr früh zu sehr in Richtung erster Liga orientiert hat. Man hat geglaubt, es ginge die ganze Zeit auf der Sonnenseite weiter. So wie es 2010 gewesen ist. Es war einfach so ein kleiner Höhenflug, den alle hatten. Vielleicht hat man gedacht, dass einem eh nichts passieren könne und dass man auf Leute setzt die dann perspektivisch die höhere Qualität haben. Natürlich dreht sich im Business Bundesliga nochmal alles ein bisschen anders und schneller. Das weckt Begehrlichkeiten und das hat man teilweise auch gemerkt, auf allen Seiten. Viele schienen überrascht, als es dann plötzlich schlechter lief. Damit kamen dann sowohl einige der Verantwortlichen wie auch der ein oder andere Spieler nicht klar.
„Das ist nicht der beste Stil und auch ein bisschen respektlos“
ÜS: Was hättest du dir gewünscht? Hätte es vielleicht gar gereicht, wenn man dir mitgeteilt hätte, dass in der aktuellen Lage noch keine Entscheidung möglich sei?
ME: Das wäre wohl das Einfachste gewesen. Es wäre ja überhaupt kein Ding, wenn man gesagt hätte: “Wenn wir in der ersten Liga bleiben, gibt es hier keine Zukunft für dich, weil wir da höhere Qualität benötigen.” Trotzdem glaube ich, dass ich in den Spielen, die ich zuletzt gemacht habe, gezeigt habe, dass ich mithalten kann. Wie auch immer, zumindest hätte man mir sagen können, dass es in der ersten Liga wahrscheinlich nicht mit mir weiter geht. Und für die zweite Liga mit der neuen Trainersituation wisse man eben noch nicht nichts genaues, aber stelle dich auf alles ein und überlege dir vielleicht schon mal was anderes. Sowas in der Art hätte man schon ganz früh kommunizieren können.
ÜS: Dann wäre wahrscheinlich dieser Unmut auch gar nicht erst aufgekommen.
ME: Das glaube ich auch. Aber vielleicht herrschte auch die Meinung, dass sich einige Spieler hängen lassen könnten, wenn sie wüssten, dass es beim FC St. Pauli nicht weiter geht. Meines Erachtens bestand diese Gefahr gerade bei Lelle und mir nicht, weil wir auch mit dem Wissen, dass es hier nicht weiter geht, alles getan hätten, damit die Mannschaft Erfolg hat, und ich glaube, dass wäre vielen anderen auch so gegangen. Da hat Helmut (Anm. d. ÜS: Helmut Schulte, noch amtierender Sportdirektor des FC St. Pauli) ja auch gerade ein paar Fehler eingeräumt und das rechne ich ihm auch an. Ich glaube auch, dass das nicht nur für sein Gewissen war, als er gesagt hat, dass das nicht optimal gelaufen sei. Er hat sich dafür auch entschuldigt. Das war eine gute Sache.
Erwischt: Marcel Eger beim Übersteiger-Interview Foto: Tim Ohnsorge
ÜS: Nun ist uns aus verlässlicher Quelle zu Ohren gekommen, dass es letztendlich dann Stani war, der Schulte auf eure ungeklärte Zukunftssituation ansprach. Dann fielen die Worte: „Wenn die glauben, sie kriegen hier nochmal einen Vertrag, dann ist ihnen nicht mehr zu helfen.“ Das haben zwei weitere Spieler mitbekommen. Wie fühlt man sich da?
ME: Sowas über Dritte zu erfahren ist natürlich nicht schön. Das ist ja ganz klar. Es ist ja eigentlich das Normalste von der Welt, wenn man sowas in einem persönlichen Gespräch klärt. Auf diesem Wege ist es natürlich nicht der beste Stil und vielleicht auch ein bisschen respektlos. Aber so ist es nun mal gelaufen und ich bin da keiner, der deswegen sagt, ich bin jetzt beleidigt. Wie auch immer, man hätte es anders machen können.
ÜS: Dennoch ist die Wortwahl nicht die Schönste. Es geht ja nicht nur darum, es über Dritte zu erfahren, sondern die Formulierung ist richtig heftig.
ME: Wenn es so gewesen ist. Wie gesagt, ich habe es über Dritte erfahren. Deshalb will ich mich hier auch zurückhalten. Aber allein der Sinn dieser Aussage führt ja schon dazu, dass man sich schlecht dabei fühlt. Ich habe dann zwei Tage vor dem Bayernspiel ein persönliches Gespräch mit Helmut Schulte unter vier Augen geführt. Da hat er mir dann mitgeteilt, dass es noch nicht klar sei, wie es weiter ginge, und dass er das erst mit dem neuen Trainer besprechen müsse. Ich habe ihn dann auch gefragt, zwei Tage vor dem letzten Heimspiel: Bekomme ich eine Verabschiedung oder nicht? So musste ich damit rechnen, dass ich so aus dem Nichts einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt und gesagt bekomme: „So, das war’s jetzt!“. Das war ein bisschen unglücklich. Dann hieß es: „Nee, du wirst erstmal nicht verabschiedet“. Die Woche drauf wisse man dann mehr. Daraufhin habe ich bei ihm ein wenig weiter ausgeholt und ihm gesagt, dass ich das anders machen würde an seiner Stelle. Das man einfach anders die Prioritäten setzen muss, wenn man behauptet, dass das Herz die Mannschaft sein müsse und es um die Wagenburg gehe, die geschützt werden müsse. Dann sollte man in diesem Bereich auch besser kommunizieren.
„Es war definitiv keine absichtliche Leistungsverweigerung“
ÜS: Du sprichst gerade die Wagenburg an. Wie war die Reaktion in der Mannschaft? Gab es Solidaritätsbekundungen?
ME: Es war keinesfalls so, dass wir das gestreut hätten. Aber man hat das schon mitbekommen. Es ist ja so, wenn man sich wohlfühlt in einer Mannschaft und dort auch Vertraute hat, dann spricht man halt darüber. Wenn man dann von Anderen bestätigt bekommt, dass da auch nicht geredet wurde und noch vieles unsicher sei und Zweifel bestehen, dann schlägt das auf die allgemeine Stimmung. Dazu kam der angekündigte Abgang von Stani. Es war dann ein wenig so, als würde der Kapitän das Schiff verlassen. In der Seefahrt ist es so: Wenn der Kapitän von Bord geht und es ist sonst keiner da, der das irgendwie übernimmt und klare Ansagen macht, wie: „So ist die Philosophie und so geht’s weiter“, dann wird es schwierig für die Mannschaft.
ÜS: Der Mannschaftsrat soll daraufhin das Thema zwei Tage vor dem letzten Heimspiel gegen die Bayern beim Präsidium angesprochen haben. Welchen Konsens gab es?
ME: Da ich dem Mannschaftsrat nicht angehöre, kann ich gar nicht sagen, was da passiert ist. Da habe ich auch nichts von mitbekommen.
ÜS: War es dann so, dass Schulte im Nachhinein vor die Mannschaft getreten ist und sich persönlich bei dir und Lelle entschuldigt hat?
ME: Nicht direkt bei uns beiden. Er hat allgemein gesagt, dass es ihm Leid tue. Das ist allerdings dann auch erst letzte Woche passiert. Also eben erst nach dem Bayernspiel.
ÜS: Für die Fans und wohl auch den Trainer war das 1:8 ein offener Schlag ins Gesicht. Waren das die vielzitierten Auflösungserscheinungen oder eine Protestreaktion der Mannschaft auf den Umgang mit Euch?
ME: Es war definitiv keine absichtliche Leistungsverweigerung. Es war nicht so, dass wir gesagt hätten: „Jetzt lassen wir uns mal so richtig abschlachten!“ und zeigen damit, dass irgendwas hier nicht stimmt. Das ist wahrscheinlich bei einigen im Unterbewusstsein drin gewesen und deswegen kam es zur der Leistung. Bezeichnenderweise war es dann in Mainz ja auch ganz anders, nachdem auch darüber geredet wurde und die Situation klar war. Da haben wir dann gesagt, dass wir uns nochmal anständig verabschieden wollen. Wie gesagt, die Leistung gegen Bayern war so nicht beabsichtigt und ich möchte auch noch herausstreichen, dass es wirklich allen Leid tut, dass es beim letzten Heimspiel der Saison zu so etwas gekommen ist. Mit Absicht macht sowas garantiert keiner.
„Damit hat Stani Helmut Schulte auch viel an Belastung abgenommen“
ÜS: Auch bei anderen Spielern schien in puncto Kommunikation das ein oder andere verbesserungswürdig zu sein. Stichwort Charles Takyi. Schulte hat das Einschreiben zur Wahrung der vereinseitigen Option so losgeschickt, dass es Charles nicht rechtzeitig erreichen konnte. Juristisch scheint das okay, die feine englische Art ist es indes nicht. Danach soll Takyi im Quartier in Lautern vor ihm weggelaufen sein und ihm wurde sogar unprofessionelles Verhalten vorgeworfen. Wie habt ihr das wahrgenommen? Wie können wir uns das vorstellen? Charles huscht vom Damenklo zur Besenkammer und der Sportchef hinter ihm her?
ME: (lacht) Schöne spitze Formulierung auf jeden Fall! Die Situation war folgendermaßen. Ich habe das auch erst im Nachhinein mitbekommen, als ich bereits zur Abfahrt im Bus saß und mich fragte: „Wo ist denn Charles jetzt eigentlich?“. Dann ist da durchgesickert, dass er nach Hause geflogen sei, weil es seiner schwangeren Freundin nicht gut ginge. So war erstmal die offizielle Version. Dann kamen nach und nach die Geschichten nach oben, die einige Spieler mitbekommen haben, dass Helmut Schulte mit irgendeinem Wisch zu Charles kam und sagte: „Hier unterschreib mal“. Wie das dann genau gelaufen ist, kann ich auch nur aus zweiter oder dritter Hand sagen. Aber wenn es wirklich so gewesen ist, dann ist das wie ich finde, eine Sache, die überhaupt nicht geht. Vor dem vielleicht wichtigsten Spiel überhaupt – wenn wir in Lautern gewonnen hätten, dann wäre noch alles drin gewesen – da einen Spieler, der allgemein als recht sensibel bekannt ist, mit sowas zu belasten, beziehungsweise abzulenken. Das ist natürlich nicht besonders clever.
ÜS: Indizien, die auf Unmut bei Trainer und Mannschaft hindeuteten gab es schon länger. Kapitän Morena sagte im Hinblick auf den sportlichen Niedergang in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt: „Das sind Sachen, die du als Einzelner nicht mehr steuern, nicht mehr greifen kannst. Auch nicht als Trainer.” Ein Fingerzeig auf den Sportchef?
ME: Tja, wahrscheinlich, was? Ich weiß nicht, was Fabio da genau gesagt hat. Aber es klingt auf jeden Fall schon ein wenig nach indirekter Kritik, finde ich. Nochmal das Bild aus der Seefahrt. Wenn ein Schiff in Turbulenzen ist, ohne Kapitän, sprich Stani als Person, dann wird es für alle anderen schwieriger. Stani hat das über Jahre aufgebaut und einfach auch sehr viel an Verantwortung übernommen. Damit hat er Helmut Schulte auch viel an Belastung abgenommen. Speziell, was die Verpflichtung neuer Spieler und die Kaderzusammenstellung betrifft, wenn das dann plötzlich wegbricht beziehungsweise der Sportchef dann merkt „Oh, jetzt muss ich vielleicht doch mehr tun als vorher“, dann hätte er da eine klare Ansage machen können.
ÜS: Den Eindruck haben wir auch! Was Schulte vor der Saison letztendlich an Spielern verpflichtet hat, beschränkt sich auf einen ausrangierten Spieler von Schalke 04, der dort kein Bein mehr an die Erde bekommen hat. Alle anderen, so behaupten wir mal rein hypothetisch, sind nur aufgrund von Stanis Charisma und seiner Philosophie gekommen.
ME: Ja, ich glaube auch, dass viele Verpflichtungen durch Stani initiiert wurden. Ich weiß das von Matze Lehmann beispielsweise oder auch Bastian Oczipka. Spieler, die ungemein wichtig für die Mannschaft sind und da hat Stani den ersten Kontakt hergestellt. Natürlich ist es in der Außendarstellung so, das Helmut die geholt hat. Er hat natürlich auch über die Presse seine Person immer weiter aufgebaut. Deshalb ist die öffentliche Meinung über Helmut Schulte ja auch immer sehr, sehr gut. Das muss man ja auch mal so sagen. Dann darf er sich jetzt auch nicht wundern, dass da auch mal was über die Presse zurückkommt. So war es in der letzten Woche. Heute ist es wieder so, dass das Präsidium ihm voll den Rücken stärkt. Nun ist das Präsidium ja auch erst frisch dabei. Bei so einer Geschichte weiß ich nicht, ob da schon so viel Profil vorhanden ist, dass man sagt, wir stehen hier auch für eine Philosophie des Vereins. Aber mit so einer Aufgabe kann man auch wachsen.
ÜS: Stani dankte in seiner Abschiedsrede vom Kritiker über die Co-Trainer und die Fans bis zum Praktikanten wirklich jedem, außer einem. Zufall?
ME: Hat er Helmut Schulte nicht gedankt?
ÜS: Nee!
ME: Okay, vielleicht war es kein Zufall, aber da müsst ihr Stani direkt fragen. Das kann ich nicht beantworten.
„Danke für das Angebot, aber wir machen das ohne euch“
ÜS: Auf einen offiziellen Abschied vor den Fans am Millerntor mussten du und Lelle aufgrund mangelhafter Kommunikation verzichten. Am Mittwoch fand nun euer selbstorganisiertes Abschiedsspiel statt. Auf das nachträgliche Angebot des Vereins, euch bei der Ausrichtung zu unterstützen, habt ihr dankend verzichtet. Warum?
ME: Das hat den Grund, dass wir das mit Marvin Braun machen wollten. Als wir am Mittwoch beide erfahren haben, dass unsere Verträge nicht verlängert werden, hat sich das mit dem geplanten Abschiedsspiel schnell rumgesprochen. Da hat Marvin Braun das auch mitbekommen und relativ schnell alles organisiert gehabt. Das ist für ihn auch noch mal so eine Art Vergangenheitsbewältigung, um für sich einen Abschluss zu finden. Bei ihm ist es damals ja auch nicht so richtig gut gelaufen. Es war damals auch genau der Punkt mit der Kommunikation. Marvin wusste ebenfalls bis zum Schluss nicht, was Sache ist und hat dann keinen Vertrag mehr bekommen. Daher hat Marvin das in die Hand genommen. Es freut mich sehr, dass er das gemacht hat. Somit stand eigentlich alles schon und wir wollten es ja auch gar nicht so riesig machen, mit Millerntor und voll auf die Kacke hauen und so. Wir wollten eigentlich nur ein cooles Spiel machen mit unseren Freunden. Dass dann die Resonanz so groß war, dass man das jetzt in die Adolf-Jäger-Kampfbahn verlegen musste, damit haben wir nicht gerechnet. Es ist aber auch ein großes Glück, dass wir das dort machen konnten. Da wollen wir Altona 93 auch mal Dank sagen, weil es einfach cool ist. Auch wenn es zuweilen zwischen den Vereinen Stress gibt, auch in der Fanszene, ist es trotzdem eine sehr schöne Sache. So haben wir dem Verein dann gesagt, wir machen das alleine. Danke für das Angebot, aber wir machen das ohne euch, weil uns eben auch sehr viele Freunde dabei unterstützt haben.
Für Dich ist hier immer ein Platz in der Redaktion frei. Foto: Tim Ohnsorge
ÜS: 1998 wurde schon einmal ein Sportchef namens Helmut Schulte beim FC St. Pauli gefeuert. Die Vorwürfe bezüglich der Kommunikation waren ähnlich. Gar von handfesten Intrigen, die zur Demission des damaligen Trainers Eckhard Krautzun und Vize Christian Hinzpeter führten, war die Rede. Endgültig aufgeklärt wurde damals nichts. Sind euch die Parallelen zu damals bewusst?
ME: Nicht wirklich. Da war ich gerade 15. Das habe ich damals nicht mitbekommen. Wenn man das jetzt natürlich so hört, sagt man: Ja, es scheint Parallelen zu geben. Aber ich glaube nicht, dass es so einen Ausgang wie seinerzeit nimmt. Ich will da auch gar nicht spekulieren. Helmut Schulte ist jetzt erstmal Sportchef und hat auch die Rückendeckung vom Präsidium. Er wird jetzt dafür verantwortlich sein, einen Kader zusammenzustellen. Vielleicht macht er ja auch vieles richtig und man tut ihm unrecht, wenn er es hinkriegt eine gute und charakterlich intakte Mannschaft zusammenzustellen. Das finde ich persönlich auch wichtig. Dass die Spielertypen da sind, die das alles hier verstehen und eben nicht sagen, dass der Verein an sich austauschbar ist und sich hier schnell mit dem Ganzen identifizieren. Es ist immer leicht zu sagen, St. Pauli ist toll mit den verrückten Fans und Hamburg ist ‘ne schöne Stadt. Und in dem Stadtteil kann man so toll feiern. Aber da gehört eben noch mehr zu.
ÜS: Richtig, denn die Neuzugänge beim blauen Nachbarn sagen ja im Prinzip nichts anderes.
ME: Ja, aber das sagen sie bei uns eben auch. Dennoch hoffe ich, dass nicht nur jeder auf seinen eigenen Arsch guckt und es nur um das persönliche Weiterkommen geht, sondern sich eine bestimmte Mentalität entwickelt, die natürlich auch vorgelebt werden muss. Gerade was die Philosophie des Vereins betrifft.
ÜS: 1997 räumte Helmut Schulte ein, Fehler gegenüber der Mannschaft gemacht zu haben. Er sei zu distanziert gewesen. Dem Sport Mikrofon verriet er am 1. Dezember kurz vor seinem Rausschmiss: „Ich kann klar sagen, dass ich mein Verhalten ändern werde. Bislang habe ich meine Managerrolle eher administrativ erfüllt…“ Wenn du das im Nachhinein hörst, hat Helmut in den letzten 14 Jahren signifikante Fortschritte gemacht?
ME: (lacht) Oh mein Gott! Das hat er so gesagt?
ÜS: Das hat er so gesagt!
ME: Also, wenn ich wahrnehme, dass ich einen Fehler gemacht habe und merke, dass irgendein Verhalten nicht korrekt gewesen ist und ich damit Leuten Unrecht getan habe, versuche ich es beim nächsten Mal einfach besser zu machen. Jetzt zieht man natürlich Parallelen. Und signifikante Fortschritte kann ich leider nicht erkennen.
„Man hat geglaubt, das geht immer alles so weiter“
ÜS: Gibt es irgendetwas, was du vielleicht noch auf dem Herzen hast?
ME: Eigentlich ist alles gesagt. Insgeheim aber hatte ich vielleicht noch gehofft, dass das Präsidium oder ein paar andere Leute in verantwortlichen Positionen mal ganz offen sagen: Okay, das ist hier wirklich schlecht gelaufen. Vielleicht haben sie es intern sogar getan, denn ich glaube, das Präsidium hat ja auch mal mit Helmut Schulte geredet. Ich hoffe, dass ihm von der Seite auch verdeutlicht wurde, wie schlecht das gelaufen ist. Nach dem Motto, für die Öffentlichkeit stärken wir den Rücken, aber raff dich mal auf, damit es beim nächsten Mal anders läuft. Wie auch immer, keine Ahnung, das wäre auf jeden Fall eine gute Sache. Allerdings weiß ich nicht, ob sich da in Zukunft was ändert oder man irgendwann einen Schnitt machen muss. Die persönlichen Gespräche mit ihm liefen halt so, dass er sich die ganze Zeit gerechtfertigt hat. Ich habe ihm da auch ein paar Sachen vorgeworfen. Ich habe mal das Beispiel gebracht, wie es war, wenn man früher als Teenie „Anstoß“ oder „Fußballmanager“ (Anm. d. ÜS: Fußballmanager-Simulationen für den PC) gespielt hat, dann hat man eine Philosophie entwickelt. Zum Beispiel hat man hier etwas mehr für die Jugendarbeit ausgegeben und dort guckte man, dass die Mentalität der Spieler stimmt, was in einem Computerspiel natürlich Quatsch ist, aber so stellt man sich das ja grob vor. Und da habe ich ihm eben gesagt, dass ich das anders gemacht hätte. Ich bin der Meinung, dass man als Sportchef unabhängig vom Trainer eine Philosophie haben sollte, die jeder kennt und die vor allem auch umsetzbar ist. Etwas, wo jeder sagt, das ist stimmig, damit kann ich mich identifizieren und dann wissen auch alle, wo der Weg hinführt. Genau das habe ich ihm dann auch gesagt, dass ich so etwas bei ihm vermisse. Stattdessen hat man versucht, den Spielern, die eine höhere Qualität haben als vielleicht Lelle und ich, die Mentalität, die wir verkörpern, einzuimpfen. Man, was mussten wir uns da anhören: „Ihr seid die Sinnbilder eines St. Paulianers!“, „Was ihr mit euren Möglichkeiten alles erreicht habt, die euch Gott gegeben hat, da ziehe ich meinen Hut vor!“ und so weiter. Als hätten wir überhaupt keine fußballerischen Qualitäten. Natürlich ist es bei mir nicht so wie bei einem Carlos Zambrano, der ein Riesentalent ist und garantiert irgendwann Champions League spielt. Trotz alledem ist doch die entscheidende Frage wie man in gewissen Situationen zusammenhält, auch wenn es negativ läuft. Stattdessen hat man dann nur den Leuten, die zu Beginn der letzten Saison kamen, voll den Rücken gestärkt. Und weil man in der Hinrunde einen einstelligen Tabellenplatz hatte, hat man wohl gedacht boah!, wir können die nächsten fünf Jahre in der Bundesliga planen und das geht immer alles so weiter. Ich glaube, gerade in dieser Situation, sind intern Entscheidungen getroffen worden, die dann schwer rückgängig zu machen waren.
ÜS: Also war so eine Art verblendete Euphorie die ganze Zeit da? Nach außen hieß es ja immer, wir planen alles seriös. Finanziell sei es im Prinzip egal, in welcher Liga wir spielen und das stehe alles auf soliden Füßen.
ME: Diesen Eindruck habe ich, ja. Also es wurde jetzt nicht so vor der Mannschaft dargestellt, aber irgendwie war es so. Wenn man jetzt zurückblickt, wie wir die Saison begonnen haben. Da standen wir plötzlich auf einem einstelligen Tabellenplatz. Da haben einige gedacht, das läuft alles so weiter und man hat überhaupt nicht damit gerechnet, dass es irgendwann auch mal wieder schlechter laufen könnte. Da hat man sich dann vielleicht auch auf Leute verlassen, die schlicht sagen: „Auf dem Karussell erste Liga, will ich weiter mitfahren und mir ist dann auch egal, was mit dem FC St. Pauli passiert“. Das ist natürlich schade, gerade für Leute, wie Lelle und mich, die im Prinzip alles mitgemacht haben und auch in der 3. Liga dagewesen sind. Wir haben dann auch mal demütig auf das Ganze geschaut und gesagt: „Alter, was wir da erreicht haben, das ist nicht normal“. Sowas muss man zu schätzen wissen und nicht einfach sagen, Mensch, das ist alles super hier.
„Ich habe hier den Spaß am Beruf Fußballer entdeckt“
ÜS: Gerade von dir kam ja auch einiges abseits des Spielfeldes. Spontan erinnern wir uns an 2006, als du während dieser unglaublichen Pokalserie den Song „Pokalfinale“ zusammen mit Benny Adrion aufgenommen hast.
ME: Klar waren auch viele Höhepunkte dabei. Mit dem Halbfinaleinzug damals hat man ja auch dazu beigetragen, dass der Verein wieder wirtschaften konnte. Dann wird gewirtschaftet und auf einmal steht man nicht mehr auf dem Zettel. Es war ja schon so, dass die Verantwortlichen sich im Herbst hin und wieder zusammengesetzt und über die Kaderplanung gesprochen haben. Frei nach dem Motto, wenn wir jetzt erste Liga spielen, dann müssen wir hier und da was machen. Auch die Aussagen des Präsidiums haben mich teilweise verwundert. Stefan Orth hat geäußert, wir wollten jetzt jedes Jahr einen Star ans Millerntor holen. Da habe ich mir auch gedacht: „Alter, in welchen Sphären bist du denn unterwegs? Bleibt doch mal auf dem Teppich!“
ÜS: Du hast die Mentalität einiger Spielern angesprochen. Speziell der Punkt, dass das persönliche Weiterkommen wichtiger als der Verein sei. Kannst du Namen nennen?
ME: Nee, das wäre einzelnen Spielern gegenüber auch ungerecht. Ich bin mit allen in der Mannschaft im Reinen. Es ist halt so, dass das Fußballgeschäft manche ein bisschen abheben und in anderen Kategorien denken lässt, als ich das vielleicht tue. Ich habe immer gesagt, wenn ich mal mit Fußball mein Studium finanzieren kann, dann wäre das super und da würde ich mich drüber freuen. Das ich das jetzt alles so miterleben durfte, ist ein riesen Glücksfall, das weiß ich sehr zu schätzen. Bei anderen ist es so, die denken sich, ich kann bis 35 Fußball spielen und wenn mir mein Berater im Winter sagt, mach dir mal keine Sorgen, du hast so viele Möglichkeiten weiter Bundesliga zu spielen und was mit dem FC St. Pauli passiert, ist gut und schön, aber vielleicht kannst du woanders ja auch viel mehr Geld verdienen. Gott sei Dank habe ich nicht so einen Berater. Der hält sich meist ganz bedeckt und weiß auch, wie ich drauf bin. Aber ich kann das schon nachvollziehen, dass das bei manchen auch was anderes hervorruft. Es kommt halt drauf an, wie man den Fußball sieht. Ich habe halt den FC St. Pauli kennengelernt, und hier den Spaß am Beruf Fußballer entdeckt. Deswegen hat das auch alles so gut zusammengepasst. Aber wie gesagt, ich kann auch den anderen Standpunkt nachvollziehen. Auch wenn es schade ist, dass sowas häufig auf Kosten der Vereinsphilosophie geschieht.
Marcel Eger macht eine Pause und geht in sich.
Natürlich habe ich mich schon länger damit beschäftigt, dass es beim FC St. Pauli nicht weiter geht. Jetzt werde ich den Hamburger Hafen dazu nutzen, um hinaus in die Welt zu gehen. Nichts desto Trotz ist es so, dass mir der Verein so sehr am Herzen liegt, dass ich seine Geschicke gerne weiterhin beeinflussen würde, wenn ich könnte. Mal sehen, vielleicht komme ich ja auch irgendwann mal wieder zurück nach St. Pauli, wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben.
ÜS: Marcel, wir danken dir für das offene Gespräch und wünschen dir alles Gute für deine Zukunft. Junge, komm bald wieder! //
Das Interview führte Troll
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