Als St.Pauli-Fan erfüllt man in der Regel das gängige Klischee, dass einem Fußball weniger wichtig als vieles am Drumherum ist und “Fußballtaktik” ist da auch nicht bei jedem zwingend eine Stärke. Da Spielverlagerung den Blick nun auch nicht jede Woche auf alle Spiele der 2.Liga wirft, könnte dies auf Sicht natürlich auch so bleiben.
Immerhin beim 1.FC Union gibt es aber einen Blog, der sich explizit mit der Taktik dort beschäftigt, nämlich Eiserne Ketten.
Wer die letzten ÜBERSTEIGER-Hefte gelesen, den MillernTon gehört hat oder auch hier im Blog regelmäßig liest, weiß, dass sich auch in der ÜS-Redaktion mit Tim inzwischen jemand tummelt, der sich ebenfalls ausführlicher mit Taktik beschäftigt.
Und so sprachen Daniel (Eiserne Ketten) und Tim (ÜS) vor dem Spiel miteinander und schrieben diesen Artikel für den Eiserne Ketten-Blog als Vorschau auf das Spiel am Freitag, welchen wir dankenswerterweise ebenfalls hier veröffentlichen dürfen.
Viel Spaß!
Was passiert bei St.Pauli?
* Gab es eine entscheidende Änderung im Vergleich zur Phase mit vielen Niederlagen, oder hat sich tatsächlich neben dem Festhalten an Trainer Lienen auch inhaltliche Kontinuität bezahlt gemacht?
Natürlich spielt die personelle Kontinuität eine Rolle. Ewald Lienen hat in der Saison 14/15 bereits bewiesen, dass er eine Mannschaft erfolgreich durch den Abstiegskampf führen kann.
Vielmehr war man sich einig, dass das Personal auf dem Spielfeld erweitert werden muss. Die Neuzugänge Möller Daehli und Flum funktionieren sofort, weil sie in einem gestandenen Team das fehlende Teil eines Zahnrads sind. Und so abgedroschen es klingt, aber entscheidend ist in diesem Fall sicherlich die mentale Komponente. Wenn man sich das letzte Spiel gegen 1860 München ansieht, dann ist der Unterschied darin, wie mit einem Rückstand umgegangen wurde, im Vergleich zur Hinrunde schon enorm.
Die entscheidenden Änderungen der Formation wurden bereits zum Ende der Hinrunde vorgenommen, indem man von einem 442, über ein 4141 auf ein 4231 umgestellt hat, nur stimmten da die Ergebnisse noch nicht. Das System mit zwei Stürmern entpuppte sich als anfällig in der Rückverteidigung und im Aufbauspiel als zu komplex.
Zusätzlich hat sich die oft zitierte Verletztenliste bereits in der Winter-Vorbereitung quasi in Luft aufgelöst.
* Das Angriffsspiel des FCSP war (in den Momenten, in denen es gefährlich wurde) zuletzt recht flügellastig. Wie stark ist dabei die Flügel-Verteidigung?
Korrekt, die offensiven Flügel sind momentan unser größter Trumpf im Offensivspiel. Und die Frage bezüglich der Flügel-Verteidigung ist absolut angebracht, da hier definitiv die Schwachstelle unseres aktuellen Systems ist.
Die Doppel-Sechs spielt stark zentrumsorientiert, welches nach Ballverlusten zu einem Ungleichgewicht auf den Flügeln führen kann, wenn sich nicht mindestens ein Flügelspieler rechtzeitig hinter den Ball bewegen kann und gegebenenfalls noch einer der Sechser (meist Buchtmann) offensiv eingerückt ist.
Daher ist es auch häufig so, dass Sobota seine Rolle wesentlich defensiver interpretiert, wenn Cenk Sahin Druck auf der anderen Seite macht. Sahin wurde in der Hinrunde nur phasenweise eingesetzt, weil seine Rückverteidigung mangelhaft war, hat im Vergleich zur Hinrunde jedoch enorme Fortschritte gemacht.
Das Risiko der zu großen Abstände in der Rückverteidigung ist definitiv vorhanden und lässt sich mit der momentanen Formation und Philosophie nicht verhindern. Auf der anderen Seite muss man das Offensivspiel des FCSP auch erst einmal verteidigt bekommen.
* Wie pressingresistent ist St.Paulis Aufbauspiel?
Sehr. Zumindest in der Rückrunde.
Die fehlende Pressingresistenz wurde im Laufe der Hinrunde als eine der Schwachstellen erkannt, daher wurde ein geordneter Aufbau weitgehend abgeschafft. Das Team versucht nun stattdessen häufig die Pressingzonen des Gegners zu umgehen und setzt dabei vermehrt auf ein strikt vertikales Spiel über die Flügel. Das bedeutet zwar viele Ballverluste, jedoch nicht im eigenem Drittel, sondern viel weiter vorne. Hier wird dann wiederum auf zweite Bälle/Gegenpressing gespielt, was die hohe Quote an Ballverlusten legitimiert. Schwierigkeiten stellen sich meist nur ein, wenn der St.Pauli nach Ballgewinn im Zentrum Gegenpressing ausgesetzt ist.
Aufstellungen
Mögliche Aufstellungen zu Beginn:
Union muss Busk, Pedersen und Puncec ersetzen, St.Pauli kann wohl mit derselben Mannschaft wie in München antreten.
Was macht Union?
* Wie läuft es bei Union in der Rückrunde? Und warum?
Wie ‘der Berliner’ sagen würde: Kannste nich’ meckern.
Ohne dem widersprechen zu wollen: Während die Ergebnisse fast perfekt sind waren die Leistungen zwar auch sehr gut, aber nicht durchgehend ganz so herausragend. Die Siege gegen 1860 und vor allem Bielefeld waren in der Tat sehr deutlich und fielen im Ergebnis eher noch zu niedrig aus. Die Partie gegen Würzburg wurde zuletzt sehr souverän und vor allem auf Grund der 50-minütigen Unterzahl beeindruckend gewonnen.
Auch mit dem einzigen Punktverlust beim umkämpften Unentschieden in einem von den Defensivstrategien geprägtem Spiel in Dresden konnte man ziemlich gut leben.
Dagegen stotterte in Karlsruhe und gegen Bochum die offensive Produktion doch erheblich und profitierte man von einem günstigen Spielverlauf beziehungsweise wortwörtlich Ausrutschern des Gegners. Dass beide Spiele gewonnen wurden hatte so einerseits etwas mit ein wenig Glück, andererseits dem Selbstvertrauen einer Mannschaft zu tun, die eine sehr gute Saison spielt.
* In welcher Formation wird Union am Millerntor antreten (Raute oder 4-3-3) und warum?
Die Raute wurde zwar in der Hinrunde als zweites Standardsystem etabliert, wurde in der Rückrunde bis jetzt aber nur sehr gezielt in einigen Momenten des Spiels gegen ’60 München eingesetzt. Es wäre also überraschend, wenn Union nicht wieder in einer Variante des 433 auflaufen würde.
Zumindest in der eigenen Defensivordnung und dem offensiven Umschaltspiel wird man die doppelte Flügelbesetzung nicht aufgeben wollen, um St.Paulis Qualitäten nicht zu verstärken und seinerseits Räume neben den Sechsern der Mannschaft von Ewald Lienen angreifen zu können. Dabei ist vor allem mit Steven Skrzybski zu rechnen, der sich im Moment in blendender Form befindet. Skrzybski kann zwar auch durch das Zentrum kommen (er spielt in der Raute auf der 10), und profitiert davon, nah genug an Sebastian Polter zu spielen, um vom Rückkehrer aus dem außereuropäischem Ausland mit Ablagen eingesetzt zu werden. Doch auch dabei startet er in der Regel auf dem rechten Flügel und rückt von dort in die Halbräume oder das Zentrum ein.
Da Möller Daehli seine Position im 4-2-3-1 von St.Pauli eher als die eines zweiten Stürmers interpretiert und gern auf die Außen ausweicht, sollte außerdem das Dreiermittelfeld aus Fürstner, Kreilach und Kroos – Daube war hier erster Ersatz, fehlt aber noch verletzt – ausreichen, um das Zentrum zumindest numerisch zu dominieren.
Allerdings rücken die Außen bei St. Pauli gern in die Halbräume ein und müssen dort entweder übernommen oder verfolgt werden. Auch dabei, auf solche Situationen flexibel zu reagieren, könnte die doppelte Flügelbesetzung helfen.
Alles in allem ist also mit einem 4-3-3 zu rechnen, in dem zuletzt aber changierte, ob das Trio im Zentrum eher als Doppelsechs/Zehn oder als Sechs/Doppelacht angeordnet war. Welche dieser Varianten zum Einsatz kommt wird auch davon abhängen, wie hoch und aggressiv sich Jens Keller das Pressing seiner Mannschaft vorstellt.
* St.Pauli glänzte bei den letzten Heimspielen mit partiellem Angriffspressing und einem tiefen, auf das Zentrum fokussiertem Mittelfeldpressing. Ist das auch gegen Union eine gute Wahl?
Die Variabilität in Unions Spiel macht diese Frage schwer zu beantworten. In etwa entspricht diese Ausrichtung (vor allem der Aspekt des Zentrumsfokus im Mittelfeld) der von Würzburg, die defensiv tatsächlich ordentlich funktionierte. Bernd Hollerbach wollte mit einer Mittelfeldraute das Zentrum verdichten und Unions Mittelfeld in Unterzahlsituationen zwingen.
Auch mit aggressivem Angriffspressing hatte Union, das gegen St.Pauli in der Innenverteidigung auf den recht sicheren Aufbauspieler Puncec verzichten muss, in dieser Saison einige Male Probleme (siehe etwa Dresden). Mit Sebastian Polter steht allerdings auch eine effektive Option zur Verfügung, solche Situation direkt zu umgehen.
Allerdings kam Union trotz einer suboptimalen Leistung auch gegen Würzburg zu einigen Chancen und deutete darüber hinaus noch größere Effizienz über die Außen an. Auch wenn der im bisherigen Saisonverlauf überragende Linksverteidiger Kristian Pedersen in Hamburg noch fehlen und von Michael Parensen sehr kompetent, aber etwas vorsichtiger, ersetzt wird, ist es eine gefährliche Entscheidung, Unions Offensive auf den Flügeln Räume anzubieten. // Artikel von Daniel, Eiserne Ketten & timbo (ÜS)
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