(Dieser Artikel von slarti erschien bereits im Print-Übersteiger Nr. 125, 10.September 2016)
Als Ende Juli 2015 am 3. Spieltag der Regionalliga Nord über 80 Fans des FCSP beim Auswärtsspiel der U23 in Lübeck die Absperrungen am Stadioneinlass durchbrachen und sich danach in einem für das Spiel eigentlich nicht geöffneten Block wiederfanden, war die Presse mit den üblichen Phrasen schnell zur Hand: Von „Krawallen“ schrieb Sport 1 und das Abendblatt fabulierte über „Randale“ und „vermummte St. Pauli-Fans“, die das Spiel „für Gewalt nutzten“.
Am Ende stand eine der größten Herausforderungen für die aktive Fanszene des FCSP: Im Dezember 2015, kurz vor dem Auswärtsspiel in Kaiserslautern, wurden die meisten der in das Geschehen in Lübeck verwickelten St. Pauli-Fans mit bundesweiten Stadionverboten belegt. Hinzu kamen weitere Stadionverbote, die aus Ereignissen in Berlin und Braunschweig resultierten. Während die Fans des FCSP sonst in der Statistik der Stadionverbotler regelmässig weit unten platziert sind, hatten wir nun etwa 100 Diffidati, überwiegend aus dem USP-Umfeld.
Einige der Folgen dürften die meisten ÜS-Leser mitbekommen haben: Der akustische Gruß an die Verbannten zu Spielbeginn – ja, liebe Nörgler, es hat einen guten Grund, dass „Aux Armes“ jetzt etwas später angestimmt wird –, Blockfahne gegen Karlsruhe, das Feuerwerk und die Choreo gegen Frankfurt, von der sich dieser Artikel den Titel geliehen hat, der große Diffidati-Marsch nach dem Heimspiel gegen Paderborn, unzählige Plakate und Spruchbänder in allen Bereichen des Stadions. Worüber einige von euch vielleicht weniger wissen: Wie „lebt“ es sich eigentlich als Fan, wenn man nicht ins Stadion darf? Mir ging’s genauso. Und weil mich das interessierte und ich für mich irgendwie mal über das „Lippenbekenntnis“ des „Diffidati con noi“ hinauskommen wollte, hab’ ich mich zu Beginn der Saison mit einigen der Betroffenen unterhalten.
„Blöd gelaufen“
Da ich in einer Ecke des Stadions beheimatet bin, in der viele Leute USP gern platt kritisieren und mit „selbst schuld“ bei Repressionen schnell bei der Hand sind, zunächst einmal etwas platte Aufklärungsarbeit: Die Presse übertreibt gern – drei verletzte Ordner sind eine doch eher karge Bilanz dafür, dass 80 Leute auf „Gewalt“ ausgewesen sein sollen und von „zwei Hundertschaften der Polizei […] unter Kontrolle gebracht“ werden mussten, werte Kollegen vom Abendblatt. Mal ganz abgesehen davon, was genau mit „verletzt“ in Polizeiberichten gemeint sein mag.
Fragt man die eigenen Leute, so ergibt sich ein zumindest differenzierteres Bild: Ein Mix aus intuitiver Reaktion auf eine heranlaufende Hundertschaft in voller Montur, gar nicht so recht wissen, was eigentlich los ist, und irgendwie von der Masse mitgetrieben werden. Klar hat jemand aus der Situation heraus die Ordner und die Absperrungen aus dem Weg geräumt. Aber insgesamt kommt „blöd gelaufen“ dem Geschehen sicher deutlich näher als intendierte „Randale“. Dafür hätte man sich wohl auch ein anderes Ziel gesucht als einen leeren Block, in dem man leicht gekesselt werden kann und letztlich für nichts ein Stadionverbot riskiert.
Vieles ist Ermessenssache
Denn zur Verhängung eines Stadionverbots ist es nicht zwingend notwendig, ein konkretes, individuelles Fehlverhalten nachzuweisen. Sie werden vielfach quasi präventiv ausgesprochen, also nicht nach Beendigung eines Ermittlungsverfahrens, sondern bei dessen Einleitung – zu einem Zeitpunkt, an dem womöglich noch unklar ist, ob überhaupt ein Fehlverhalten vorlag. Wird das Ermittlungsverfahren dann eingestellt, kann man zwar in der Regel eine Aufhebung des Verbots erwirken – aber dann durfte man zwischendurch schon einige Monate nicht ins Stadion.
Überhaupt liegt vieles im Ermessen des verantwortlichen Vereins. Was in Dortmund oder München zu einem Stadionverbot führt, kann in Mainz oder auf St. Pauli durchaus anders geklärt werden. Spricht aber ein Verein ein Stadionverbot aus, gilt es per Selbstverpflichtung der Vereine, die das Lizenzierungsverfahren des DFB durchlaufen haben, von der Bundesliga bis in die Regionalliga. Also nicht für die Wettbewerbe der UEFA, weshalb beispielsweise der FC Bayern gleichzeitig ein Hausverbot für die Allianz-Arena erteilt, damit die Betroffenen nicht etwa beim Spiel gegen Real Madrid im Stadion stehen. Zugleich verliert man dort übrigens infolge eines Stadionverbots Dauerkarte, Auswärtsdauerkarte und Vereinsmitgliedschaft. Bei uns zum Glück nicht. Und während man als Stadionverbotler einem Spiel des FC Bayern nicht näher als zwei Kilometer kommen darf und in Kaiserslautern der ganze obere Teil des Betzenbergs Tabu ist, beginnt die Verbotszone am Millerntor erst am Drehkreuz – in den Fanräumen waren unsere Verbannten also immer willkommen. Überwacht wird die Einhaltung des Verbots übrigens nicht von den Ordnern am Einlass, wie manche offenbar glauben, sondern lediglich die „Szenekundigen Beamten“ (SKBs) der Polizei halten die Augen offen.
Teilweise geht mit der Aussprache eines Stadionverbots auch ein Stadtverbot einher. Tatsächlich kann man dazu sogar ohne Stadionverbot kommen, wenn die SKBs in anderen Städten einen bei einem bestimmten Spiel nicht dabei haben wollen. Gründe werden dabei nicht angegeben. Einige unserer Stadionverbotler durften also beispielweise nicht nach Düsseldorf oder Nürnberg rein, weshalb USP in diesen Fällen auch nicht per Sonderzug fahren konnte. Denn selbst die Durchfahrt durch die betreffende Stadt war am Tag des Spiels verboten und hätte Konsequenzen haben können. Daher fuhr man mit dem Bus und die Stadionverbotler stiegen in Ratingen bzw. Fürth aus und verbrachten dort den Tag – in Fürth neun Stunden –, bis sie nach dem Spiel wieder abgeholt wurden. Auch Freiburg und Bielefeld waren einigen verboten.
Fan ist man nicht nur 90 Minuten in der Woche
Trotzdem änderte sich für die Betroffenen zunächst weniger, als man vielleicht denkt: „Letztlich ändern sich nur 90 Minuten in der Woche, auch wenn die sehr schmerzhaft sind. Aber sonst arbeitet man weiter sechs Tage auf den Spieltag hin.“ Die Aufgaben innerhalb der Gruppe müssen ja weiter erledigt werden, zum Beispiel die Arbeit an den Choreos. Das Ergebnis verpasst man dann aber und muss in der Kneipe – auf St. Pauli oder mitten im Nichts – auf den Moment hoffen, in dem das Fernsehen die Choreo einblendet, um zu sehen, ob alles geklappt hat. Das hielt einen Großteil der Diffidati jedoch nicht davon ab, regelmäßig mit auf Auswärtsfahrt zu sein: „Ich lass mir doch meine Serie von, was weiß ich, 170 Spielen nicht durch sowas kaputtmachen.“ Außerdem ist das Spiel selbst ja nur ein Teil des Auswärtserlebnisses: „Auswärtsspiele hast Du auf der Fahrt und beim Drumherum noch die Leute, den Freundeskreis – beim Heimspiel bist Du am Arsch. Das schlimmste für mich waren tatsächlich die Heimspiel, das war das ätzendste überhaupt.“
Vielleicht gerade weil man bei uns praktisch bis ans Drehkreuz mitgehen kann: „Das erste Spiel, das ich draußen sein musste, tat unendlich weh, alle Leute, die man kennt, gehen rein und man selbst bleibt mit den anderen Verbotlern draußen.“
Nicht nur die Stadionverbotler selbst leiden unter der Situation – auch das Umfeld ist mitbetroffen: „Einer der härtesten Momente war für mich, als meine ständige Sitznachbarin mit Tränen in den Augen aus dem Bus ausstieg, weil ich nicht mitdurfte, zu sehen, wie nahe es ihr ging.“
Ansonsten ist es vor allem die Dauer, die an den Nerven zehrt: „Anfangs war’s fast noch spannend und irgendwie neu, dann aber wurd’s schnell doof – die Spätzle schmecken überall gleich. Nach einem halben Jahr hast Du echt kein Bock mehr. Wenn ich mir vorstelle, dass ich das drei Jahre machen müsste, ich würde kaputt gehen.“
Die Verbannten mit uns
In einer solchen Situation braucht es Solidarität. Die gab es zum Glück von vielen Seiten: „Die Unterstützung der Fanszene beim Diffidati-Marsch war für uns enorm und tat uns echt gut.“ Auch außerhalb Hamburgs dachte man an die Verbannten: „Babelsberg hat uns eine Blockfahne hingehängt und uns dann hinterher geschenkt und bei jedem Spiel eine „I love Diffidati“-Fahne gehabt. München hat eine ganze Choreo gemacht, Fürth hat für uns was hingehängt, jede irgendwie links orientierte Fanszene in Europa hat irgendwas für uns gemacht.“ Das hilft.
Vielfach waren es aber auch persönliche Gesten, die enorm wichtig wurden: „Jedes Spiel, das ich draußen war, hab’ ich immer gegen die 20. Minute eine SMS bekommen, in der mir jemand ein Herzchen geschickt hat. Das sind so die kleinen Dinge, die einen am Leben erhalten.“ Ähnliche Erfahrungen machten viele.
„Daher auf diesem Wege der offizielle, herzliche Dank der Stadionverbots-Gruppe an alle, die ihre Solidarität bekundet haben, sei es auf dem Diffidati-Marsch oder durch alle anderen Formen der Unterstützung, und für die viele Kraft, die das gegeben hat! Uns hat auch das nochmal gezeigt, was für ein geiler Verein St. Pauli ist!“
Trotz allem: „War im Nachhinein eine beschissene Zeit.“
Für viele ist sie – hoffentlich nicht nur zunächst – seit Beginn der Saison vorbei: Seit dem 1. Juli hat Lübeck die Stadionverbote ausgesetzt, sozusagen auf Bewährung. Umso beschissener für die etwa zehn Diffidati, die immer noch nicht wieder rein dürfen und die Situation weiter ertragen müssen und dabei jetzt eher noch mehr Unterstützung brauchen.
Gleichwohl war das Spiel in Stuttgart nicht nur für diejenigen, die seit Dezember draußen bleiben mussten, bewegend: „Als man dann gegen Stuttgart wieder im Stadion war und das 1:0 fällt, da kommen einem schon die Tränen.“
Und man traf sich wieder: „Die Leute, die zusammen auswärts gefahren sind und nicht ins Stadion durften, sind in der Zeit ein zusammengeschweißter Haufen geworden. Man ist nicht gemeinsam nach Stuttgart gefahren, auch nicht zusammen ins Stadion gegangen, aber am Ende standen alle gemeinsam ganz unten beieinander auf dem Zaun, das ist einfach so passiert.“ – „Ja, genau, ich konnte deswegen bestenfalls ein Drittel des Spielfelds sehen – aber ich hab’ mich dafür 90 Minuten über eure leuchtenden Augen gefreut.“
Wie sich die Leute da unten am Zaun fühlten, als nach den Erfahrungen dieser Zeit der ganze Gästeblock den Diffidati-Gruß mit den gekreuzten Armen machte, müsst ihr sie selbst fragen. Auch zu vielen anderen bizarren, lustigen, unangenehmen Erlebnissen. Nachvollziehen kann man das alles auch dann sicher nur im Ansatz. Aber wenn man sie trifft, dann kann man auch selbst mal „Danke!“ sagen. Beispielsweise für eine Choreo beim ersten Heimspiel dieser Saison, für die praktisch die ganze Sommerpause gearbeitet wurde – und für die genauso hart gearbeitet 06worden wäre, wenn man selbst nicht hätte dabei sein dürfen. Dafür, dass die Verbannten an dem, was im Stadion gelaufen ist, stets ihren Anteil hatten – ohne selbst viel davon zu haben. Manchmal haben sie uns auch von außen etwas gegeben. „Diffidati con noi – Die Verbannten mit uns“ war und ist nicht nur Solidarität mit denen „draußen“ – sie ging und geht von draußen auch an die „drinnen“. Nicht nur „wir“ sind mit ihnen – sie sind auch „mit uns“.
Ende gut, alles gut?
Das hätte unter anderen Umständen auch ein schönes Schlusswort sein können. Aber leider gibt es, wie gesagt, noch immer einige, die weiter das Leben der Diffidati führen müssen, die unsere Solidarität noch immer brauchen. Und auch für die, die wieder dabei sein dürfen, ist Lübeck noch nicht vorbei. Die Stadionverbote sind zwar ausgesetzt, aber die Strafverfahren laufen weiter. Viele haben den Strafbescheid schon bekommen, Widerspruch eingelegt und warten jetzt auf die Nachricht, wie es weitergeht. Für die zu erwartenden Verhandlungen braucht es Anwälte, die Strafen müssen bezahlt werden – was bei dreißig Tagessätzen schnell auch mal 1000 Euro oder mehr werden. Es braucht also noch immer Unterstützung, und wenn es keinen direkten Weg gibt, gern auch durch eine Spende an die Braun-Weiße Hilfe. Oder, liebe Nörgler in meiner Ecke, indem ihr beim nächsten Spielbeginn einfach mitmacht:
„Allez, Allez, Allez, Allez, Allez … i diffidati, i diffidati, i diffidati, allez, allez!“ // slarti
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