FC St.Pauli 2016/17 – Taktisch gesehen

timbo, neues Redaktionsmitglied des ÜBERSTEIGERs, hat sich erneut Gedanken zur taktischen Ausrichtung des FCSP in dieser Saison gemacht.
timbo bloggt zusammen mit flippa auch bei den Nice Guys St.Pauli.

Jeder, der ein Spiel von uns diese Saison wirklich gesehen hat (und nicht nur zum Party-machen im Stadion war), dem ist aufgefallen, dass es irgendwie nicht läuft aufm Spielfeld. Es scheint so, als würden wir es nicht schaffen das Spiel geordnet aufzubauen, geschweige denn offensiven Druck auf den Gegner zu erzeugen. Doch woran liegt das? Was hat sich im Vergleich zur letzten Saison geändert?

Zuallererst müssen wir einmal feststellen, dass die Probleme im Spielaufbau nicht erst diese Saison aufgetreten sind, sondern dass dies ein Problem ist mit dem sich Mannschaft und Trainerteam(s) seit Jahren auseinandersetzen. Letzte Saison wurden die Probleme im Offensivspiel mit einem 4‑2‑3‑1 durch sehr gut funktionierendes Konterspiel maskiert. Auffällig war aber bereits, dass wir eher gegen hoch verteidigende Teams wie Leipzig, Freiburg, Braunschweig und Fürth gut zurechtkamen. Stellte sich ein Gegner tief hinten rein und überließ uns das Spiel, wurde es schwierig (siehe 1:3 vs. Sandhausen oder 0:2 vs. 1860). Nach gutem Saisonstart sprach sich rum, wie man St. Pauli knacken kann, welches die immer noch gute, aber im Vergleich zur Hinrunde eher mäßige Rückrunde erklärt. Somit war eine Änderung der taktischen Ausrichtung, auch weil Leistungsträger den Verein verließen, zur neuen Saison unausweichlich.

fcsp_taktik1Das Offensivkonzept von Ewald und seinem Team beruht auf dem Versuch eine Überzahl auf den offensiven Außen zu schaffen, sogenannte Überladungen. Hierzu bewegten sich in der letzten Saison die Spieler auf eine Seite, um dort Situationen zu erzeugen, die es erlaubten einen gezielten Ball ins Sturmzentrum zu spielen. Dieses System funktionierte unter anderem wegen eines nicht oder zu gering besetzten Sturmzentrums nicht immer. Wie also die Präsenz im Sturmzentrum erhöhen? … Richtig! Ein zweiter Stürmer muss her! Zur neuen Saison wurde daher ein System mit zwei Stürmern entwickelt, also von einem 4‑2‑3‑1 auf ein 4‑4‑2 (oder 4‑2‑2‑2). Hierzu wurde der zentral offensive Mittelfeldspieler aufgegeben, der sonst immer bei den Überladungen mithalf, indem er den Ball in die Zone auf den offensiven Außen spielte oder trug und diese dann mitbesetzte. Stattdessen wurde diese Position nun in eine falsche Neun umgewandelt. Die Überladungen auf den Außen sollten nun durch einen der äußeren Mittelfeldspieler (Kalla, Sobota – Besetzungen der Positionen aus dem Heimspiel vs. Braunschweig), einen hoch stehenden Außenverteidiger (Hornschuh, Hedenstad) und durch horizontale Bewegungen eines Stürmers (meist Picault) übernommen werden. Das Sturmzentrum wurde durch den zweiten Stürmer und situativ durch den zweiten Außenverteidiger besetzt. Die beiden Sechser (Nehrig, Buchtmann) waren aufgrund der hohen Außenverteidiger gezwungen, sich defensiv zu halten, um mögliche Konter zu unterbinden. Somit wurde auch das Nachrücken eines Spielers, wenn der zentral offensive Mittelfelder das Zentrum verließ, wie es letzte Saison mit Rzatkowski gespielt wurde, zugunsten des besetzten Sturmzentrums seltener. Um die Überzahl auf den Außen zu erzeugen, muss der Ball möglichst kontrolliert in diese Zone gebracht werden, welches sich als Hauptproblem dieses System herausstellte. Hierfür werden sogenannte Nadelspieler benötigt, also Spieler, die Bälle unter hohem Druck behaupten und durch enge Passagen (wie im Mittelfeldzentrum) in die überladene Zone weiterleiten können. Diese Aufgabe kam in diesem System auf die äußeren Mittelfeldspieler Kalla und Sobota zu, welche sich bei offensiver Aufteilung ins Zentrum bewegten, um Bälle aus der Abwehr entgegenzunehmen und auf die Außen weiterzuleiten.

So weit, so gut. Das Weiterleiten der Bälle kann jedoch zu einer Mammutaufgabe werden, wenn der Gegner sich von der Präsenz der Außenverteidiger nicht beeindrucken lässt und stattdessen zentrumsfokussiert bleibt. Funktioniert diese Verbindung nicht, dann bleibt als weiteres Mittel nur noch der lange Ball in die überladene Zone, welches in unserem Fall aber oft mehr für Hektik, als für offensives Kombinationsspiel sorgte. Durch mangelhaftes Nachrücken und Positionsspiel entstanden unterbesetzte Räume im Zentrum (meist wurde dieses nur vom eingerücktem äußeren Mittelfelder besetzt). Daher konnten Abpraller und zweite Bälle selten gewonnen werden und Gegenpressing nach Ballverlusten fiel meist ganz aus. Hierdurch eröffneten sich Räume für Konter. Reaktionen auf den miesen Saisonstart und auf Verletzungen waren dann die schleichende Rückkehr zum 4‑2‑3‑1 (mit Choi im Zentrum statt Picault als falsche Neun), welches wieder vorsichtigeres Vorrücken der Außenverteidiger und einen höher stehenden Buchtmann zur Folge hatte. Das Problem des schlecht funktionierenden Verbindungsspiels blieb jedoch. Verunsicherung und mächtig Druck durch schlechte Ergebnisse taten ihr Übriges.

fcsp_taktik2Neben der fehlenden offensiven Durchschlagskraft, stottert es jedoch auch in der Defensive. An den ersten zehn Spieltagen haben wir uns immer mindestens ein Gegentor gefangen. Eine Situation die untragbar ist. Vor allem, wenn in der Vorsaison in ganzen 16 Spielen die ‚Null‘ gehalten wurde. Zu Beginn der Saison wurden aufgrund der hohen Außenverteidiger die Räume zwischen den Ketten im defensiven Umschaltmoment nicht immer schnell genug geschlossen. Dadurch konnten die gegnerischen Teams ihrerseits Überladungen auf den Außen erzeugen und immer wieder kontrolliert in Abschlussnähe kommen. Ohne eine funktionierende Defensive fehlte es auch an Kontersituationen, da es nur sehr wenige direkte Ballgewinne gab. Nach den taktischen Änderungen geht das Defensivkonzept grundsätzlich auf (Ausnahme Sandhausen). Wer das jetzige Defensivkonzept noch kritisiert, der kritisiert das System der letzten Saison, es ist nämlich identisch.

Es gab jedoch ganz andere Probleme, die letzte Saison nicht auftraten: Verletzungspech und reihenweise individuelle Fehler. Mit der viel zitierten ‚Kompaktheit‘ meint Ewald letztendlich nix anderes als enge Räume und das gemeinsame Ausbügeln der Fehler einzelner Spieler. Zusätzlich ist die, durch Sperren und Verletzungen notwendige, ständige Neuformierung der Viererkette ebenfalls nicht hilfreich, wenn es darum geht gemeinsam zu verschieben und im Raum zu verteidigen.

Was ist also zu tun? Eine Möglichkeit ist der Reset-Button, also die Rückkehr zum Fokus auf die Defensivarbeit und ausgereiftem Konterspiel, welches uns bereits vor zwei Jahren vorm Abstieg bewahrte. Bei eigenem Ballbesitz ist ein Sicherheitskonzept á la Darmstadt denkbar. Hierbei werden vornehmlich lange Bälle in die Spitze gespielt und auf Abpraller und zweite Bälle gepresst. Ein furchtbar hässliches System, aber eben extrem sicher, da Ballverluste in offenen Räumen nahezu unmöglich sind. Ein solches Sicherheitskonzept wird es jedoch eher nicht geben, vielmehr werden Ewald und sein Team versuchen, eine Mischung aus beiden Systemen zu erschaffen, die wieder zentrumsfokussierter ist, ohne Defensive und Strafraumbesetzung aufzugeben. Ein System mit einem offensiveren Sechser und nur situativ hohen Außenverteidigern wäre denkbar.

Ich persönlich finde, dass ein System mit mehreren Stürmern die richtige Antwort auf Mannschaften im 4‑2‑3‑1 ist, wie der Erfolg von Teams wie Köln und Hoffenheim zeigt, die ein ganz ähnliches System in der 1. Liga spielen lassen. Die Umstellung in der Sommerpause ist also keine falsche Entscheidung gewesen. Allerdings braucht so ein System sowohl Zeit, als auch Praxistests (und damit sind keine Testspiele gemeint). Zwei Dinge, die wir momentan nicht haben bzw. uns erlauben können. Was macht jetzt noch Mut? Zum Beispiel die Tatsache, dass wir nicht das einzige Team in Liga zwei sind, welches mit Problemen im Spielaufbau hadert. Allerdings sind wir die einzigen die zusätzlich mit erschreckender Konstanz Gegentore fangen. Hier bleibt festzuhalten, dass die Defensivprobleme nicht unlösbar sind, handelt es sich doch meist um individuelle Fehler von Spielern, die letzte Saison defensiv glänzen konnten. Es bleibt also Hoffnung. // timbo

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