Vor 15 Jahren: Überfall auf das Jolly – Teil 1

Und dann hat es “Boom!” gemacht

“Eine Gruppe bewaffneter und vermummter Schläger überfiel in der Nacht zum 5. Juli 2009 gegen 2 Uhr auf St. Pauli eine Gaststätte. Dabei wurden einige der Besucher*innen jenes Lokals teilweise schwer verletzt und ein Sachschaden von mehreren tausend Euro angerichtet. Es wurde kein Bargeld entwendet, die Motive sind weiterhin unklar. Experten vermuten jedoch einen Bandenkrieg, da es bereits im März und erst einen Monat zuvor in Kiel zu Auseinandersetzungen beider Gruppen gekommen war. Die Polizei hat nach eigenen Angaben die Ermittlungen aufgenommen”.
So lautete die Einleitung zum Text von Stemmen & Welf im Übersteiger #95 zum Saisonbeginn 2009/10.

Und ich zitiere weiter, weil die beiden es so treffend formuliert haben: “So oder so ähnlich hätten wohl die Presseberichte gelautet, wenn es da bei der angreifenden Gruppe nicht einen klitzekleinen Unterschied gäbe, der sie gleich in höhere Sphären hievt. Die Schläger trugen Polizeiuniformen, womit für den deutschen Michel klar sein dürfte, dass da schon irgendetwas vorgefallen sein muss”.

Im weiteren Text werden zunächst Aussagen der Polizei erwähnt. So sei es im Anschluss an das Schanzenfest wiederholt zu Störungen der öffentlichen Sicherheit vor dem Jolly Roger gekommen. Flaschenwürfe auf Beamte soll es gegeben haben und die Übeltäter ins Innere der Kneipe geflüchtet sein, weshalb eine Einheit (BFE) die Lokalität “unter Einsatz körperlicher Gewalt und Pfefferspray” schlussendlich gestürmt habe.

Zum Zeitpunkt dieses Einsatzes waren ca. 80 Gäste einer Geburtstagsfeier anwesend, die jäh gestört wurde. Nach dem unverantwortlichen Einnebelns mit dem Reizgas übergaben sich dutzende Eingeschlossene, da ihnen das Verlassen der Räumlichkeiten von den Beamten verwehrt wurde.

Verzweifelt wurde versucht die Frontscheibe einzuschlagen, um wieder Luft zu bekommen. Die Behauptung der Polizei, dass aus der Kneipe heraus mit Barhockern auf sie geworfen wurde, klingt mehr als abstrus, wenn man die räumlichen Gegebenheiten des Jolly Rogers kennt. Die meisten Anwesenden flüchteten dann in den Keller und schlossen sich ein. Kurz nachdem die Einheit in den (fast) leeren Laden stürmte, rannten sie auch schon wieder ins Freie. Benebelt von ihrem eigenen Pfefferspray.

Ich hatte den Sturm auf mein zweites Wohnzimmer von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet und mit meinem Kollegen Mike telefoniert. Ich schilderte ihm die unfassbaren Szenen, die sich abspielten. Leider hatte ich weder Videokamera noch Fotoapparat dabei und mit meinem alten Telefon konnte man nicht wirklich Fotos machen.

Nachdem die Cops aus dem Jolly herauskamen und sich entfernten, rannte ich über die Budapester Straße in die Kneipe. Vor der Tür wurde geheult und gekotzt. Ich wollte Wasser für die Verletzten vom Tresen besorgen, drehte aber nach wenigen Sekunden wieder um. Stichwort Pfefferspray. Nach und nach beruhigte sich die Szenerie und auch die Menschen. Es gab noch einige Katz- und Maus-Spiele am Paulinenplatz und in der Wohlwillstraße. Dann war plötzlich Ruhe eingekehrt.

Ich weiß nicht mehr, ob überhaupt noch Leute am oder im Jolly waren, als ich an der Ecke zur Paulinenstraße stand und aus dieser Straße eine Truppe Staatsschergen auf mich zukam. Ich ging einige Meter rückwärts und im Gänsemarsch ging die Truppe mit einigen Metern Abstand an mir vorbei.
Nochmals aus dem ÜS von damals: “Tiefpunkt dieser staatlich subventionierten Gewaltorgie war schließlich ein gezielter Tonfa-Schlag ins Gesicht eines abseits stehenden Journalisten, der dabei vier Schneidezähne verlor. Diese Tat passierte abseits vom eigentlichen Geschehen und obendrein beim Abzug der Schlagstock Träger”. Ihr ahnt es bereits: Dieser Journalist war ich.

Plötzlich und völlig unerwartet, drehte sich die letzte Uniform des Marsches um und schlug zu! Ich sah (und sehe noch heute) den Knüppel auf mich zukommen. Mein letzter Gedanke war: “Gleich tut’s weh!”… Das tat es wohl auch, jedoch spürte ich absolut keinen Schmerz als ich auf den Knien hockend Zähne ausspuckte und Blut schmeckte. Es war wie in einem dieser schlechten Bud-Spencer-Filme.

An alles Weitere erinnere ich mich teils wirklich nur rudimentär. Ich blickte den Cops noch nach, die sich in Richtung Einsatzwagen bewegten und rief bzw. nuschelte noch: “Was sollte das denn?” Vielleicht war ich auch kurz ohnmächtig. Ich weiß es nicht. Irgendwer fragte mich, ob ich einen Krankenwagen bräuchte. Ich verneinte und stammelte: “Ich will nur nach Hause und auf’s Klo”. Leider zu spät, wie ich in diesem Moment bemerkte. Denn vermutlich infolge des Schocks hatte ich mir mal so richtig in die Hose gemacht. Ich meine: RICHTIG!

Meine Freundin hatte samt unserem Hund Knut die Örtlichkeiten glücklicherweise schon früher verlassen. Ich weiß noch, dass ich über die Wohlwillstraße zur Stresemannstraße ging. Eine Polizeikette versperrte den Weg über die komplette Fahrbahn. Irgendwie schaffte ich es an ihnen vorbei und ebenso lief ich an Freundin und Hund vorbei, die vor der Kneipe “Mutter” saßen. Ich war wohl so komplett neben der Spur, dass nicht mal mein Knut mich wahrnahm.

Mein Ziel hieß Badezimmer. Klamotten aus und ab in die Dusche. Danach der Blick in den Spiegel. Horror pur! Dann stand meine Freundin vor mir und übernahm ganz “Schwester Stefanie”-like die Erstversorgung. Auch machte sie das Beweisfoto. Wie ich das noch bearbeitet und samt kurzem Text ins St. Pauli-Forum gestellt habe, entzieht sich meinen Erinnerungen. Irgendwie schaffte ich es ins Bett.

Als ich am nächsten Vormittag aufwachte, traute ich meiner Zunge nicht! Sie fuhr über den Oberkiefer, – doch da war nichts! Erneut musste der Spiegel im Badezimmer herhalten und verschaffte mir die traurige, optisch nicht zu leugnende Wahrheit: Alle vier oberen Schneidezähne waren nicht mehr da, wo sie bis gestern eigentlich hingehört hätten und ein Eckzahn wackelte bedenklich.
Es dämmerte mir langsam, was passiert war und wollte im Forum nachsehen, ob und wenn was bereits dazu geschrieben wurde. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich den Thread “Bullen stürmen Jolly und Zähne raus“, den ich zu meiner weiteren Überraschung wohl des Nachts noch selbst erstellt hatte. Es gab bereits zahlreiche Reaktionen.

Nach dem Frühstücks-Café stand die obligatorische Runde mit dem Hunde auf dem Programm. Freund Olli B. hatte, nachdem er im Forum gelesen hatte, seinen Medikamentenschrank geplündert und mir alles an verfügbaren Schmerzmitteln mitgebracht. Voll Gedopt ging es also los. Nach wenigen Metern fuhr ein HVV-Bus an uns vorbei. Auf der Rückseite prangte die Werbung der “Medeco-Zahnklinik” in Bahrenfeld. “Hey”, sagte meine Freundin, “die haben auch sonntags geöffnet. Sollen wir jetzt dahin?”. Ich verneinte und sehnte mich nach einem Bier auf dem Hundeplatz. “Ich fahre morgen zu meinem Zahnarzt”, beendete ich fahrlässigerweise die Diskussion. Hätte ich mal zugestimmt…

Was folgte, war einerseits eine Ärzte-Rally meinerseits und eine unvorstellbare Solidarität der Fußball-Fanszene und damit sind nicht nur die Fans in Braun-Weiß gemeint. Innerhalb weniger Tage spendeten etliche St. Pauli-Fans 19,10 Euro, aber es wurden z.B. auch Beträge von 18,48 Euro, 18,60 Euro, 19,00, 19,04 oder 19,09 und sogar 18,87 Euro auf das flugs eingerichtete Spendenkonto überwiesen. Chapeau!
Fortsetzung

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