Trockendock am Millerntor

Ein ausführliches Interview mit den Weiß-Braunen Kaffeetrinker*innen zum Projekt eines alkoholfreien Getränkestandes am Millerntor

Bereits vor über 25 Jahren gründeten zwei trockene Alkoholiker den FC St. Pauli Fanclub Weiß-braune Kaffeetrinker*innen. Ihre Idee war, anderen St. Paulifans mit Alkoholproblemen zu helfen und “künftig die Spiele am Millerntor gemeinsam ‘komafrei’ zu genießen”. Im Laufe der Jahre erweiterte sich der Gedanke auf Suchtprävention allgemein. Der Fanclub machte und macht dabei immer wieder auf die Problematik aufmerksam, dass z.B. Firmen wie Jack Daniel’s und diverse Sportwettenanbieter als Sponsoren beim FC St. Pauli auftreten (und im Fußball allgemein) und dass der Verein auch eine Verantwortung zu tragen hätte in der Suchtprävention. Da lag irgendwann auch der Gedanke nahe im Stadion für eine Situation zu sorgen, in der (Alkohol-)Suchtgefährdete zumindest einen Stand haben, der ausschließlich alkoholfreie Getränke anbietet. Über eben dieses Projekt, das Trockendock, wollten wir im Interview mehr wissen, denn es hat sich nach vielen Anfangsschwierigkeiten viel getan in den letzten zwölf Monaten.

ÜS: Liebe Weiß-braune Kaffeetrinker*innen. Seit April 2022 gibt es das Trockendock bei den heimspielen im Stadion. Was gab es alles für Hürden zu überwinden, damit es soweit war?

WBKT: VIELE!
Angefangen hat die ganze Geschichte mit dem erneuten Sponsorenvertrag zwischen dem FCSP und Jack Daniel’s im Mai 2019. Mit etwas Unverständnis haben wir auf die formulierten „gemeinsamen Werte“ von FCSP und Jack Daniel’s reagiert. Auf der einen Seite ein Verein mit postuliertem fortschrittlichen Werteportfolio und auf der anderen Seite ein Alkoholproduzent, der mit dem Verkauf von gesundheitsgefährdenden Produkten große Gewinne einfährt. Wir starteten damals mit einem ersten Flyer eine Kampagne, die mit Anträgen zur FCSP Mitgliederversammlung 2019 endete, in denen wir unter anderem die Einrichtung von vier komplett alkoholfreien Getränkeverkaufsständen IM Millerntor Stadion forderten.

Aus heutiger Sicht müssen wir uns eingestehen – wir sind da recht naiv in die MV hereingegangen.

Mit einer hart geführten Debatte um unsere Anträge hatten wir schon gerechnet – nicht aber mit dem massiven Gegenwind von Seiten des Präsidiums und von Teilen der anwesenden Mitglieder. Letztendlich konnten wir heilfroh sein, dass zumindest der Antrag zur Einführung von alkoholfreien Getränkeständen zu einem Prüfantrag an das Präsidium umgewandelt worden ist – und das wahrscheinlich auch aufgrund der hochemotionalen Antragsbegründung von Sarah.

Anfang 2020 lähmte dann die Corona-Epidemie alle weiteren Entwicklungen. Coronabedingt erhielten wir dann erst im Mai per Mail den Beschluss des Präsidiums zugestellt: Kein Verbot der „Rucksackverkäufer*innen“ – Ablehnung von alkoholfreien Getränkeständen im Stadion. Die Ablehnung der Getränkestände wurde hauptsächlich damit gegründet, dass das Präsidium alkfreie Stände für das falsche Präventionskonzept hält, es keinen Sinn mache, „Käseglockeninseln“ im Stadion zu schaffen, wenn gleichzeitig zehntausende Menschen um Betroffene herum konsumieren würden und aus Kostengründen. Damalige Hypothese: Die vier Stände würden den Verein pro Saison mit etwa € 10.000 Euro belasten – eine Summe, die der Verein insbesondere in Coronazeiten nicht würde aufbringen könne.

Aus unserer damaligen Sicht konnten wir bei entsprechendem Perspektivwechsel die oben aufgeführten Ablehnungsgründe zumindest nachvollziehen – richtig erzürnt hat uns aber folgender Satz aus dem Ablehnungsschreiben:

Die Frage ist daher: Kann das Stadion generell ein geeigneter Raum für Menschen sein, die in ihrer Sucht akut instabil und gefährdet sind?“

Diese Position empfanden wir als maximal verletzend und empathiebefreit. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum das Gesprächsklima zwischen uns, dem Präsidium und der Abteilung Inklusion beim FCSP fortan unter atmosphärischen Störungen litt.

2020 und 2021 war bekanntlich geprägt von Geisterspielen und/oder stark reduzierten Besucherzahlen am Millerntor. Auch wir waren in aller erster Linie damit beschäftigt, unseren Fanclub/unsere Selbsthilfegruppe so aufzustellen, dass wir nicht den Kontakt untereinander verlieren würden und wir arbeitsfähig bleiben. Das gelang uns dann so gut, dass wir ab Mitte 2021 unserer Augenmerk auf unser bevorstehendes 25jähriges Jubiläum richten und das Thema „Trockendock“ wieder aufgreifen konnten. In diesem Zusammenhang entstand dann auch die Idee, zumindest für einen erst einmal symbolischen, ersten alkoholfreien Getränkestand € 2.500 zusammen zu bekommen, um diese dann dem Verein zu spenden. Nicht die Tatsache, dass wir das nötige Geld so schnell aus Spenden von FCSP-Anhänger*innen generieren konnten, hat uns dann doch ziemlich überrascht, sondern der Umstand, auf wie viel argumentative und kreative Unterstützung wir zurückgreifen konnten. Unser Spendenaufruf wurde vielfälltigst geteilt, unsere Sammelbüchsen konnten wir im Fanladen, im Museum, im Jolly und im Hostel platzieren – Nicht-Betroffene haben uns bei der Flyerverteilung vorm Stadion unterstützt, wir konnten eine Walter-Frosch-Karikatur versteigern, die Kölner Punk-Band „Raptus“ hat uns einen suchtbezogenen Song geschrieben – und, und, und. Mit einer so breiten Unterstützung haben wir in der Tat nicht gerechnet und sind noch heute wirklich gerührt und tief bewegt.

Anfang 2022 ging es nunmehr darum, wie ein alkoholfreier Getränkestand dann auch tatsächlich IM Stadion realisiert werden könnte.
Ziemlich schnell wurde klar, dass der Verein das Geld nicht annehmen und es kein vereinsoffizielles „Trockendock“ geben würde. Wir haben uns dann dafür entschieden, ein Agreement mit dem Stadion-Caterer Förde Show Concept / FSC einzugehen. Dass dieser „Ausweg aus dem Dilemma“ hinter den Kulissen von Vereinsseite gut vorbereitet wurde, ist uns bewusst – und da es uns um die Sache geht, können wir damit auch gut leben.

Seit der Eröffnung des Trockendocks im April 2022 lag unser Hauptaugenmerk darauf, es zu einer offiziellen Einrichtung des Vereins zu machen. Zum einen wollten wir aus der möglichen finanziellen Verantwortung für dieses Projekt entlassen werden – zum anderen sehen wir es immer noch als Ziel an, dass der Verein sich in der Frage Suchtmittelkonsum im Millerntor Stadion und bei sonstigen FCSP-Aktivitäten klar positioniert. Dieser Abklärung sollte auch ein „Runder Tisch zur Zukunft des TDs“ dienen, der auf unsere Initiative hin, relativ kurz vor der FCSP MV 2022 stattgefunden hat. Dieser Runde Tisch und auch die Infoveranstaltungen des Vereins vor der MV waren in Bezug auf das TD relativ unbefriedigend – ein Grund, warum wir dann letztendlich die FCSP-Mitglieder über das Projekt „Trockendock“ haben abstimmen lassen.

Wir möchten an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass es uns in der Gesamtauseinandersetzung nie um Konfrontation und Rechthaberei ging – es ging und geht uns ausschließlich um die Sache. Umso erfreuter sind wir, dass es nach dem MV-Beschluss und der befürwortenden Haltung des Präsidiums zu einer entspannteren Debatte um den besten Weg kommen kann. Wir sind also für die Zukunft sehr optimistisch, zusammen mit dem Verein gute Konzepte zur Suchtprävention auf den Weg zu bekommen und für Betroffene eine wertschätzende Situation im Stadion schaffen zu können.

Wir haben im Übrigen zur Geschichte des Trockendocks eine umfangreiche Dokumentationen erstellt, in der wir jede Menge Dokumente, Flyer, Presseartikel und vieles mehr zusammengefasst haben – wer das alles einmal in Ruhe nachlesen möchte, der nehme bitte über unser HP Kontakt zu uns auf – wir schicken sie Euch dann gerne zu.
Weiß-braune Kaffeetrinker*innen

ÜS: An wie vielen Spieltagen gab es den Stand bislang? Wie gut wurde er angenommen? Habt ihr einen Überblick, wie viel Getränke verkauft, wie viel eingenommen wurde? Wie war das Feedback von Fans/Fanklubs/Verein/Sonstigen?

Der alkoholfreie Stand 'Trockendock' der Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen in der gegengerade des Millerntorstadions
Der alkoholfreie Stand ‘Trockendock’ der Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen in der gegengerade des Millerntorstadions

WBKT: Das Trockendock hatte letzte Saison beim Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg am 29. April seine Premiere. Bis auf eine Ausnahme war das TD an jedem Heimspieltag geöffnet.
Konkrete Umsatzzahlen haben wir nur von den ersten beiden Spieltagen der vergangenen Saison erhalten. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das TD für sich betrachtet kein Defizit erwirtschaftet. Über die Frequentierung gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Unsere Erfahrungen vor Ort lassen sich so zusammenfassen: Das TD wird gut angenommen, einige Stadionbesucher*innen nehmen es sogar in Kauf, extra den Weg zum TD auf sich zu nehmen, weil sie das Projekt für wichtig halten. Das hat sich auch gerade beim Millerntor-Rückrundenauftakt gegen H96 gezeigt – wir konnten nie gekannte Schlangen am TD verzeichnen.
Gerade im Vorfeld der FCSP MV tauchten von Vereinsseite auf einmal Frequentierungszahlen in Bezug auf das TD auf, die wir als „politisch opportun“ einschätzen würden, da sie unseren Beobachtungen diametral widersprachen. Nun denn – das ist nach dem MV-Beschluss aber auch nur noch eine Randnotiz wert ..

Unsere Position zur Wirtschaftlichkeit des TDs ist im Übrigen eindeutig: Der FCSP generiert mit dem Verkauf unbestritten gesundheitsschädlicher Drogen sehr viel Geld. Selbst wenn das Trockendock ein defizitäres Projekt wäre, liegt es in der Verantwortung des Vereins, sich zumindest um Ausgleichsmaßnahmen zu kümmern – das stellt im Prinzip einen modernen Ablasshandel dar. Uns ist natürlich bewusst, dass der Verein aus wirtschaftlichen Gründen mittelfristig nicht auf Alkoholverkauf verzichten kann – und natürlich auch deshalb, weil er damit einem Bedürfnis der meisten Stadionbesucher*innen nachkommt. Dieses Spannungsfeld hat Mara Pfeiffer in ihrer Laudation zu unser Preisverleihung gut beschrieben: Fanpreis 2022 für die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen | WORTPIRATIN

Seit Bestehen des TDs haben wir ohne Ausnahme nur positives Feedback erhalten: Das betrifft die organisierte Fanszene des FCSP, Veröffentlichungen in FCSP-nahen Medien (z.B. Millernton, Magischer FC, SP-Fanforum ), Unterstützung durch Fanladen und Fanclubsprecherrat und viele, viele Kommentare z.B. auf unserer Facebookseite oder in unserem Twitter-Account. Die Beratungsstelle Inklusion im Fußball KICKIN! hat dem TD den Titel „Leuchtturmprojekt“ verliehen und betroffene Fußballfans aus der gesamten BRD kontaktieren uns regelmäßig.

Aus den Bereichen der Suchthilfe und der Suchtberatung erfahren wir bundesweit einen wahnsinnigen Zuspruch. In diesem Spektrum hat sich ebenfalls ein erheblicher inhaltlicher Wandel vollzogen. Áus einem „Meide Deine alten Trinkstätten“ ist ein „es gibt kein käseglockenfreies Leben – sorge für eine safe Situation, nehme teil am normalen Leben – nur so wirst Du eine zufriedene Abstinenz erreichen“ geworden. Die WBKler*innen und das TD leisten hierzu sicherlich einen Beitrag

„Die Meinung des Vereins“ zum TD gibt es sicherlich nicht. Einmal vom Wirtschaftlichkeitsaspekt abgesehen, gibt es über den Königsweg beim Thema Suchtprävention und Umgang mit abstinent lebenden Menschen eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen. Das hat sich seit 2019 bei einer Vielzahl von Gesprächen, die wir mit Vereinsvertreter*innen geführt haben, immer wieder gezeigt. Das von der FCSP MV eingeforderte Suchtpräventionskonzept bietet hier sicherlich die Chance, zu einem guten Austausch zu kommen. Wir verfügen über zahlreiche qualifizierte Kontakte zu Personen, die professionell in den entsprechenden Bereichen arbeiten und sichern dem Verein unsere volle Unterstützung bei der Ausarbeitung zu.

ÜS: Wo und wie breit wurde außerhalb der St. Pauli Bubble über euer Anliegen und den Stand berichtet und wie sehr hat die Auszeichnung “Fanklub des Jahres” von der Deutschen Akademie für Fußballkultur für Aufmerksamkeit, Reichweite und Sichtbarkeit gesorgt?

WBKT: Vorab: Es ist uns wichtig zu betonen, dass wir alles andere als mediengeil sind. Suchtselbsthilfe und Öffentlichkeit schließen sich „eigentlich“ grundsätzlich aus. Bei Selbsthilfegruppen ist strikte Anonymität und Verschwiegenheit gegenüber Außenstehenden normalerweise ein ungeschriebenes Gesetz, dass auch durchaus seine Berechtigung hat. Wir haben uns aber ganz bewusst dazu entschieden, mit unseren Namen und Gesichtern in die Öffentlichkeit zu gehen, um unsere Anliegen voranzutreiben. Wir prüfen aber jede Medienanfrage sehr genau, bevor wir unser Okay für eine Zusammenarbeit geben.

Mit dem Start unserer Kampagne zum Umgang mit Suchtmitteln beim FCSP Mitte 2019 hat es eine Vielzahl von Veröffentlichungen gegeben. Die Verleihung des Hamburger Selbsthilfepreis im Frühjahr 2020 erwies sich dabei als erster Türöffner – genauso die erste überregionale Berichterstattung durch das „Neue Deutschland“ Ende 2021. So richtig ernst wurde es dann durch den SPIEGEL-Bericht im Januar 2021 – danach wurden wir mit Presse- und Medienanfragen überhäuft. Auch die entsprechenden Podcasts des WDRs und des Deutschlandfunks waren in der Folge sehr hilfreich. Interessant war allerdings, dass wir seit 2019 den „kicker“ und 11FREUNDE regelmäßig mit umfangreichen Material versorgt haben – anfänglich ohne jegliche Reaktion. Das macht einmal mehr deutlich, wie eng das Fußballgeschäft und die Alkoholindustrie miteinander verwoben sind, und welche Gratwanderungen auch von Werbeanzeigen abhängige Medien hier beschritten werden. Die Verleihung der Auszeichnung „Fanclub des Jahres“ durch die renommierte Deutsche Akademie für Fankultur hat uns aber nochmals weitere Türen geöffnet – wobei die Berichterstattung im vermeintlich sehr kritischen Sportmagazin „11 FREUNDE“ auch nur durch äußerst private Netzwerkkontakte möglich war.

Unsere Reichweite hat sich seit 2019 in der Tat massiv vergrößert – das erleben wir durch Rückmeldungen auf Veröffentlichungen von uns aus der gesamten BRD und auch aus dem Europäischen Ausland. Wer heute „Weiß-braune Kaffeetrinker*innen“ googelt, findet auf mehreren Seiten eine Vielzahl von Medienveröffentlichungen – das war noch vor fünf Jahren ganz anders. Wir übersehen aber keinesfalls, dass wir uns natürlich auch in einer sehr komfortablen und privilegierten Situation befinden. Es gibt bestimmt sehr viele Suchthilfeinitiativen, die hervorragende Arbeit machen – es aber selten bis nie in die Öffentlichkeit schaffen. Wir profitieren eindeutig von dem Spannungsfeld „Fußball und Alkohol/Drogen“ – und das dann ausgerechnet auch noch beim FCSP und seinen „berühmt-berüchtigten“ konsumorientierten Fans – so jedenfalls die klischeehaft vorherrschende Meinung.

Auszeichnung Fanclub des Jahres 2022 für die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen der Deutschen Akademie für Fußballkultur.
Auszeichnung Fanclub des Jahres 2022 für die Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen der Deutschen Akademie für Fußballkultur.

ÜS: Wie hat euch das Preisgeld von 5000€ der Deutschen Akademie für Fußballkultur geholfen? Wie konntet ihr es einsetzen?

WBKT: Wir haben die Auszeichnung „Fanclub des Jahres“ in erster Linie für unser über 25jähriges Engagement im Bereich der Suchtselbsthilfearbeit beim FCSP erhalten – die Aktivitäten rund um das Trockendock waren für die Jury nur ein Baustein für ihre Entscheidung.

In unserem Bewerbungsschreiben war der Punkt „Preisgeldverwendung“ ein abgefragter Unterpunkt. Wir waren uns im Vorwege einig, dass wir das mögliche Preisgeld nicht für die Finanzierung des Trockendock-Betriebes einsetzen werden – sicherlich aber einen Teil für Aufklärungsaktionen am TD. Ein Großteil des Geldes fließt in unseren Sozialfond und in Maßnahmen, die unsere Präventionsarbeit z.B. bei Vorstellungsrunden in Suchthilfeeinrichtungen professionalisieren werden.

Hat eurer Engagement, bzw. euer Stand schon für Nachahmer in anderen Vereinen gesorgt? Seid ihr im Austausch mit Fanklubs anderer Vereine, die sich dem Thema Sucht und deren Prävention gewidmet haben, damit Fußball wirklich “für alle” da ist, auch gefährdeten Menschen?

Wir gehen natürlich davon aus, dass Suchtproblematiken kein elitäres FC St. Pauli-Problem sind. Von daher ist es schon verwunderlich, dass es auch nach dem Hype um die Auszeichnung „Fanclub des Jahres 2022“ bisher keinerlei Kontaktaufnahmen von Fanprojekten anderer Fußballvereine gab. So schön Alleinstellungsmerkmale für mediale Aufmerksamkeit sind – wir würden uns schon ein breiteres „Outing“ betroffener Fußballanhänger*innen und ein entsprechendes Engagement in ihrer jeweiligen Szene wünschen. Solange aber immer wieder Statements kolportiert werden, wie etwa „Denn Fußball bedeutet bei uns: Bratwurst, Bier, 90 Minuten Fußball« von Dirk Zingler in der »Sport Bild«” oder gerade jüngst „Wir möchten auch zukünftig Fußball zum Anfassen bieten. Altona 93 steht für Bier, Bratwurst – und Naturrasen“ – ist das natürlich schwer …

Allerdings besteht seit etwa eineinhalb Jahren ein freundschaftlicher Kontakt zu „Nüchtern betrachtet“ – einer Arbeitsgemeinschaft des Fanprojektes von Union Berlin, die mit aktuell etwa 35 Mitgliedern in Köpenick seit etwa 3 Jahren eine sehr erfolgreiche Arbeit macht. Beim DFB-Pokalspiel Union vs. FCSP Anfang 2022 hat es auch schon einen ersten face-to-face Austausch gegeben.

Die Ausstrahlung der ARD-Doku „Nüchtern sein ist nichts für Feiglinge“ hat uns allerdings aktuell eine Menge an Rückmeldungen von betroffenen Fußballanhängern aus der gesamten Republik beschert – vielleicht entwickelst sich ja auch andernorts etwas ähnliches wie am Millerntor …

ÜS: Bei der letzten Jahreshauptversammlung von 2022 des FC St. Pauli wurde euer Antrag zur Suchtmittelprävention beim FCSP und zum Fortbestand des “Trockendocks” bei vier Enthaltungen und ohne Gegenstimmen von der Mitgliederversammlung angenommen und der Verein sagte seine Unterstützung zu. Was bedeutet das ganz konkret?

WBKT: Wir hätten sehr gerne darauf verzichtet, unseren Antrag aus 2019 noch einmal stellen zu müssen. Mensch muss wissen, dass das Projekt „Trockendock I“ zumindest bis zur FCSP MV 2022 im Wesentlichen auf einem Agreement zwischen uns und dem Stadion-Caterer Förde Show Concept basierte: FSC betreibt das Trockendock, der FCSP stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung, wir sorgen für die Gestaltung, die inhaltliche Begleitung (und im Zweifel gleichen wir wirtschaftliche Verluste bezogen auf das TD aus …).

Kurz vor der MV bekamen wir Kenntnis davon, dass das Stadioncatering neu ausgeschrieben wird. Es bestand die Gefahr, dass mit Beginn der neuen Saison unser Deal mit FSC hinfällig werden könnte. Da auch der „Runde Tisch zur Zukunft des TDs“ kurz vor Ablauf der Antragsfrist zur MV 2022 relativ ergebnislos verlaufen ist, haben wir die Notbremse gezogen und den Antrag erneut gestellt.

Durch den Beschluss der MV haben wir so etwas wie eine Bestandsgarantie für das TD im Umlauf der GG erreicht – auch über die Saison 2022/2023 hinaus – wobei eine räumliche Verlegung im Bereich des Möglichen ist. Weiterhin wird es nächste Saison ein weiteres TD geben – von uns wäre eine Positionierung in der Nähe des Kinder- und Jugendblocks (Umlauf Haupttribüne) absolut wünschenswert, um gerade hier deutlich zu machen, dass es Alternativen zu der scheinbar symbiotischen Verknüpfung von Freizeitvergnügen und Suchtmittelkonsum gibt.

Spannend wird noch die Diskussion um das von der MV eingeforderte Präventionskonzept mit der Hauptzielrichtung Kinder und Jugendliche. Wir halten so ein Konzept schon lange für überfällig und werden zu diesem Thema im Frühsommer zu einer „Fachtagung“ einladen.

ÜS: Welche Schritte werden unternommen, was erwartet euch, was können die Fans erwarten?

WBKT: Wir begleiten das Trockendock an den meisten Spieltagen mit einem kleinen Infostand direkt vor dem Verkaufsbereich. Hier gibt es schon jetzt eine direkte Gelegenheit, mit uns in Kontakt zu treten und sich über uns und unsere Arbeit zu informieren. Dieses niedrigschwellige Kontaktangebot werden wir bis zum Ende der Saison auf jeden Fall aufrechterhalten. Für die Saison 23/24 müssen wir dann schauen, welche Möglichkeiten sich bei einer in Aussicht gestellten Verlagerung des TDs dann auftuen.

ÜS: Wird es zu den Heimspielen der Rückrunde regelmäßig das Trockendock geben?

WBKT: Der Beschluss der MV war eindeutig. Das TD in seiner jetzigen Form wird bis zum Ende der Saison 2022/23 so Bestand haben. Es sieht augenscheinlich so aus, als wenn das Stadioncatering zur neuen Saison in diversen Bereichen neu konzipiert wird – wohin das TD dann im Bereich der GG wandert wird, lässt sich aktuell noch nicht abschätzen. Nachdem sich ja bei der MV auch das Präsidium eindeutig pro TD positioniert hat, gehen wir davon, dass wir an den Umsetzungsplanungen beteiligt werden.

ÜS: Benötigt ihr weitere Hilfe und Unterstützung und wenn ja, welcher Art? Was müsste konkret der Verein tun, was andere Institutionen, wie können sich Fans engagieren?

WBKT: Ohne die breite Unterstützung der FCSP-Community wäre die Eröffnung des Trockendocks im April 2022 nicht möglich gewesen – auch nicht die Annahme unseres Antrages auf der letzten MV. Wir wünschen uns also, dass die FCSP-Mitglieder und die Fanszene dieses Projekt weiterhin solidarisch begleitet und uns dabei unterstützt, die Umsetzung der MV-Beschlüsse (Bestandsgarantie, zweites TD im Bereich des Kinder- und Jugendblockes sowie ein vorzulegendes umfangreiches Sucht-Präventionskonzept) voranzutreiben. Und auch wenn es möglich sein muss, bestimmte Projekte des FCSP nicht ausschließlich unter kommerziellen Aspekten zu betrachten: Je mehr das TD frequentiert wird, um so entspannter sind auch die Gespräche mit Verein, Marketingabteilung und dem Caterer.

Und an alle Menschen im Stadion: die kürzeste Schlange für Getränke ist bisher immer die am Trockendock! Nutzt es!“

(aus dem stpauli fanforum)

Und trotz der großen medialen Aufmerksamkeit für das TD im vergangenen Jahr gibt es immer noch zahlreiche Besucher*innen, die über diese Versorgungsmöglichkeit im Umlauf der GG nicht informiert sind – der eine oder andere Werbe-Spot während der Heimspiele oder eine gutgemachte Werbekampagne über die Kommunikationskanäle des FCSP können sicherlich nicht schaden.

Außerhalb der FCSP-Community erfahren wir großartige Unterstützung aus der regionalen und überregionalen Suchthilfe und Suchtberatungsszene – hier hat sich unsere sehr gute Vernetzung wirklich ausgezahlt.

ÜS: Was habt ihr unmittelbar für Tipps für Fans, die sich in einer Sucht befinden, können diese sich jederzeit an euch wenden und auf Wunsch Mitglied werden?

WBKT: Wir sind in aller erste Linie eine Selbsthilfegruppe und versuchen jede/jeden dabei zu unterstützen, die/der sich auf den Weg in ein suchtmittelfreies Leben machen möchte. Wir sind alle langjährige Experten unserer eigenen Erkrankungen und können aufklären, informieren, unterstützen, Ängste nehmen und motivieren. Und wir können zeigen, dass Suchtmittelverzicht nicht gleichbedeutend mit mangelnder Lebensfreude und Spaßbefreitheit ist.

Letztendlich ist es aber bei allen Suchterkrankungen immer so: Die ersten Schritte aus der Suchtspirale heraus können die Betroffenen nur selbst gehen. Ohne die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen und ohne Krankheitseinsicht funktioniert ein Abbiegen von der Suchtautobahn nun einmal nicht – wir helfen aber sehr gerne beim Setzen des Blinkers.

ÜS: Was sind die Voraussetzungen um im Fanklub aufgenommen zu werden?

WBKT: Bei den WBKler*innen engagieren sich mittlerweile Menschen mit ganz unterschiedlichen Suchterkrankungen aus den Krankheitsfeldern „reine Alkoholiker*innen“, polytoxe Abhängigkeiten, Mischkonsum, Medikamentenmissbrauch, Doppeldiagnose, Spielsucht – aber auch Menschen ohne Abhängigkeitserkrankungen, die einen sehr selbstkritischen Blick auf ihr eigenes Konsumverhalten geworfen haben. 100prozentige Abstinenz ist also nicht das entscheidende Aufnahmekriterium – wenngleich bei unseren Treffen, Veranstaltungen und Freizeitaktivitäten zum Schutze aller die strikte Regel gilt: kein Alkohol, keine Medikamente, keine Drogen.

ÜS: Wollt ihr noch etwas loswerden?

WBKT: Ohne die finanzielle und inhaltliche Unterstützung ganz vieler Menschen rund um den FCSP wäre die Umsetzung des Projekts „Trockendock I“ nie möglich gewesen. Dieses erfahrene Solidarität berührt uns sehr. Wir konnten erleben, dass durch Hartnäckigkeit und kontinuierliches „am Ball bleiben“ sich Meinungen und Einstellungen verändern lassen. Wurden wir 2019 noch öfters mit Sprüchen konfrontiert, wie etwa „diese Spinner wollen uns unser Bier wegnehmen …“ – stoßen wir heute in den allermeisten Fällen auf Empathie, Akzeptanz und Lob für unsere Standhaftigkeit – das macht Mut und schafft Motivation für weiteres ehrenamtliches Engagement.

Und: Wir haben noch einen TV-Tipp: Anfang der Woche wurde in der ARD eine wirklich einfühlsame Doku über eine WBKler*in ausgestrahlt. Der Film von Birthe Jessen zeigt eindrucksvoll auf, wie Suchtgeschichten verlaufen können, und wie ein Ausstieg aus Suchtspiralen funktionieren kann – ein wenig Millerntor-Flair inbegriffen.

Der Beitrag unter dem Titel: „Nüchtern sein ist nichts für Feiglinge“ lässt sich noch mindestens ein Jahr in der ARD Mediathek abrufen: Nüchtern sein ist nichts für Feiglinge | ARD Mediathek. (Unbedingte Ansehempfehlung auch vom Übersteigerkollektiv. Zusätzlich wollen wir euch auch die Podcastfolge der Wortpiratin nahelegen, in der es ebenfalls um das Thema Sucht & Fußball geht und Michael von den WBKT zu Wort kommt: Die Wortpiratin – An diesem Dogma würden wir gerne rütteln)

Liebe Weiß-braune Kaffeetrinker*innen, wir danken euch für dieses ausführliche Interview und wünschen weiterhin viel Erfolg und alle Hilfe, die ihr benötigt!

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