Wie ich eine Zecke wurde

“Noch ein Mal mit der Achterbahn”, flehte ich meine Eltern an. “Mir ist schon schlecht”, hatte meine Mum abgewunken. Warum hatte sie sich auch zwei Tüten Schmalzkuchen reingestopft? “Lasst uns lieber zum Abschluss alle ins Riesenrad”, schlug sie stattdessen vor. “Voll öde”, befand mein Schulfreund Stefan, der uns begleitete. Meine Eltern hatten zugestimmt, dass er übers Wochenende bei mir schlafen durfte. Er wurde wohl eher ausquartiert, damit seine Eltern ungestört ihren zehnten Hochzeitstag feiern konnten.

Nach dem Derby-Sieg
(Foto: St. Pauli ist die einzige Möglichkeit)

Nach zähen Verhandlungen über den Erwerb zweier Cola standen wir schließlich in der Schlange vor dem Riesenrad. Als unsere Gondel langsam in die Höhe glitt, hatten wir eine herrliche Aussicht über den Sommer-Dom. Plötzlich blieben wir am höchsten Punkt stehen. Ich ließ meinen Blick über die Lichter der Fahrgeschäfte schweifen, dann drehte ich mich zur Seite und konnte den Hafen sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich einen Fußballplatz, der direkt neben dem Dom lag. Ringsrum kleine Stehtraversen und Miniatur-Tribünen.

“Was ist das?”, fragte ich meinen Vater, mit dem ich schon oft im großen Volksparkstadion gewesen war. “Da spielt Pauli, so’n kleiner Verein hier aus dem Stadtteil”, lautete die Antwort. “Aber an der U-Bahn steht doch SANKT Pauli”, meldete Stefan Einspruch an. “Ist ja auch egal”, sagte meine Mum. Die Fahrt war zu Ende. Wir stiegen aus. “Gehen wir da auch mal hin, wenn die spielen?”, löcherte ich meinen Vater auf dem Heimweg in der U-Bahn. Wir wohnten damals in Hummelsbüttel, einem kleinen Stadtteil unweit des Flughafens. “Mit Sicherheit gehen wir da nicht hin”, beendete mein Vater jegliche Diskussionsversuche. Wie er sich irren sollte…

Nach den Sommerferien, die wir mit Stefans Familie in Österreich verbracht hatten, sprach mein alter Herr irgendwann die für mein weiteres Leben folgenschweren Worte: “Am Samstag gehen wir mit Stefan und Ingo ins Stadion. HSV gegen Pauli.” Ingo war Stefans Vater. Ich war außer mir vor Freude und konnte mich in den nächsten Tagen noch weniger als sonst auf die Schule konzentrieren.
Endlich würde ich ein anderes Stadion kennenlernen. Groß war die Enttäuschung allerdings, als es statt zum Millerntor wieder in die zugige Betonschüssel im Volkspark ging, wo mein Vater als Ordner arbeitete. Ich war fälschlicherweise von einem Heimspiel der St. Paulianer ausgegangen. Das wäre mir wesentlich lieber gewesen.
Von verschiedenen Fankurven hatte ich noch nie gehört – und so sagte ich zu dem Mann am Kassenschalter wie immer: “Westkurve, Block B. Zwei Schüler, ein Erwachsener.”
Kurz vor Anpfiff standen wir auf unseren Plätzen. Weiter rechts von uns waren die Rabauken, wie Ingo sie nannte. “Lasst uns bloß etwas Abstand zu denen halten”, mahnte er. Damit wir besser sehen konnten, kletterten Stefan und ich auf einen Wellenbrecher. Dann begann das Spiel. Von den HSV-Profis erkannte ich den Torhüter Rudi Kargus und Manfred Kaltz (von dem ich wusste, dass er Manni genannt wird und Nationalspieler war) sowie den Engländer Kevin Keegan mit seiner Pudelfrisur.

1977: Der größte Triumph
(Foto: St. Pauli ist die einzige Möglichkeit)

Von den St. Paulianern kannte ich keinen. Das sollte sich schnell ändern. Franz Gerber war der erste von ihnen, der in meinem Kinderhirn seinen Platz fand. Eine halbe Stunde war gespielt, als “Schlangen-Franz” zum 1:0 für St. Pauli traf. In der gegenüberliegenden Ostkurve jubelten die Leute und schwenkten kleine braun-weiße Fahnen. Um uns herum vernahm ich Worte, die ich noch nie gehört hatte, und versuchte, mir alle zu merken. “Luden”, “Hurensöhne”, “Zecken” . Was sollte das bedeuten? Ich wagte nicht, Ingo zu fragen. In der Pause kaufte er uns Eis.

In der zweiten Halbzeit hatten meistens die Spieler mit den roten Hosen den Ball. “Der Kargus von St. Pauli ist aber gut”, sagte Stefan, als der Schlussmann der Gäste einen Schuss von Keegan hielt. Ich hatte in der Pause das Stadionmagazin gelesen und wusste, wie der Torwart von St. Pauli hieß. “Das ist Jürgen Rynio”, belehrte ich Stefan, der zum aller ersten Mal bei einem Fußballspiel war. “Und der, der das Tor gemacht hat, heißt Franz Gerber”, schob ich mein neues Halbwissen triumphierend hinterher.

Bald musste ich mir einen weiteren Namen merken. Kurz vor dem Ende erzielte Wolfgang Kulka das 2:0 für meine neuen Helden. Lange nach dem Abpfiff trafen wir drei meinen Vater vor dem Stadion wieder. Auf dem Weg zum S-Bahnhof sprach ich die für sein weiteres Leben folgenschweren Worte: “Papa, ab nächste Woche gehe ich aber zu den anderen“.
// Hossa

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