18. Juni 1995: FC St. Pauli – FC Homburg 5:0 !

Auf den Tag genau vor 30 Jahren stieg der FC St. Pauli nach 1977 und 1988 als Tabellenzweiter zum dritten Mal in die Bundesliga auf. Grund genug einmal zurückzublicken. Dazu präsentiert Der Übersteiger ein Kapitel aus dem Buch „St. Pauli ist die einzige Möglichkeit“ von 2009.
Mit Folke („Unhaltbar!“), Mike („Der Übersteiger“) und meinereiner („Hossa“) waren drei (Ex-) Autoren von (teils Ex-) St. Pauli-Fanzines damals am Werk. Den Buchumschlag hat übrigens Kriller entworfen, der auch jahrelang die Cover des Übersteigers gestaltete. Viel Spaß und bitte beachten und nicht vergessen: Wir waren noch jung…
Hossa:
„Eine Kiste Astra und ne gute Buddl Schampus bitte“. Die beiden ungefähr 30-jährigen Männer standen mit Totenkopffahne und braun-weiß geschminkten Gesichtern in der Eingangstür des Getränkemarktes, in dem ich seit einiger Zeit jobbte. Klar, es war Sonntag und eigentlich hatte der Laden geschlossen, doch meine Kollegen und ich sowie ein paar Bekannte trafen sich damals dort vor jedem Heimspiel zum preisgünstigen Vorglühen in Stadionnähe.
Beim Bezahlen kam dann die Frage, die kommen musste: „Und, was meinste, schaffen wir das heute?“. Ich war mir meiner Sache mehr als sicher. Wir brauchten doch nur diesen verdammten einen Punkt gegen den FC Homburg um aufzusteigen. „Das klappt schon“, gab ich ihnen mit auf den Weg, auf den sich auch unsere Gruppe alsbald machte.
Mike:
In Reinbek war die Welt noch in Ordnung. Wie unzählige Male zuvor trafen wir uns mit unserem St. Pauli-Fanclub am Bahnhof zur gemeinsamen Anreise. Die Stimmung war an diesem sonnigen Tag besonders ausgelassen. Schließlich stand der Aufstieg auf dem Tagesprogramm. Neben ein paar Bieren machte die übliche Flasche Saurer Apfel die Runde auf der knapp halbstündigen Fahrt zum S-Bahnhof Sternschanze.
Dort trafen wir gut gelaunt auf meinen Vater, der sich diesen historischen Tag natürlich auch nicht nehmen lassen wollte. Mein Vater wurde nur der „Bifi-Man“ genannt, weil er meine Freunde und mich jedesmal mit einem Jutebeutel voller Halbliter-Bierdosen und unzähligen BiFis in allen Varianten empfing. Schließlich brauchte das Bier ja eine Grundlage.
Hossa:
Vor dem Stadion standen wie üblich einige Polizeiwagen. Die Beamten lehnten an den Mannschaftstransportern oder hockten auf deren Trittbrettern und genossen die Junisonne. Mit reichlich Bier und Vorfreude gewappnet, enterten wir unsere Plätze auf der Gegengerade in Höhe der Mittellinie und begannen mit dem Einsingen. Selten hatte ich eine derart gelöste, fast überschwänglich fröhliche Stimmung am Millerntor erlebt.

Mike:
Eine halbe Stunde vor Anpfiff betraten wir das Stadion. In den Gesichtern der Fans auf der Gegengerade herrschte ausnahmsweise Euphorie. Ich bekam Angst. Soviel Optimismus hatte ich in sechs Jahren St. Pauli noch nie gesehen. Sollten wir am Ende ausnahmsweise auf der Gewinnerseite stehen?
In den 90 Minuten sah alles danach aus. Schnell führte der FC 1:0, 2:0, 3:0 zur Halbzeit. Spätestens, als Babyspeck-Bomber Jens „Gerdl“ Scharping in der 84. Minute zum 5:0 einnetzte, einte die 21.000 Zuschauer am Millerntor nur noch ein Wunsch: Ihre Helden in die Arme zu nehmen.
Folke:
Sonnenschein von oben und ein Gegner von unten, der hoffnungslos unterlegen war. Der längst abgestiegene FC Homburg erinnerte an Gegner, mit denen ein Proficlub auf seiner Sommertingeltangeltour über die Dörfer spielt, um seine Finanzen aufzubessern.
Die meisten Ordner standen vor dem Millerntor und passten auf, dass nicht noch mehr Anhänger in das überfüllte Stadion reinkamen. Im American Football gibt es ein „2-Minute-Warning“, das die Endphase einer Halbzeit einläutet. Bei den Ordnern gibt es normalerweise ein „15-Minute-Warning“: Eine Viertelstunde vor Schluss sollen sie sich vor den Zauntoren versammeln, um Platzstürme zu unterbinden.
Diesmal hatten sie ihre Kräfte allerdings draußen konzentriert, und etwa zehn Minuten vor Schluss war nicht nur das Homburger Tor sperrangelweit offen, sondern auch drei Tore von den Tribünen zum Spielfeld – aus welchem Grund auch immer – geöffnet. Das ließ sich die Gegengerade nicht zweimal sagen. So standen nach etwa 85 Minuten einige hundert Fans unmittelbar am Spielfeldrand – ungewöhnlich, aber wesentlich geordneter als beispielsweise in den letzten Minuten des EM-Finales 1972 in Brüssel, als Sepp Maier beim Ballholen die feierwütigen deutschen Fans regelmäßig zur Seite schubsen musste.
Doch dann blies Schiri Bodo Brandt-Cholle nach etwa 89 gespielten Minuten in seine Pfeife und zeigte in Richtung Strafstoßmarke: Elfmeter! Oder etwa schon der Schlusspfiff? Erst Dutzende, dann Hunderte dachten Letzteres und rannten auf den Rasen, um den Aufstieg zu feiern.
„Was sind denn das für Fans? Was soll denn das hier, über den Platz zu laufen? Bewahrt Ruhe und verlasst sofort den Platz!“, flehte Stadionsprecher Rainer Wulff die Massen an.
Die Nordkurve, in der ich damals stand, formulierte es weniger diplomatisch. „Ihr seid doof“, skandierten jene, die auf den Traversen geblieben waren und geduldig auf den Elfmeter zum 6:0 warteten. Und es fielen die Worte „Ihr seid scheiße wie der HSV“ – die Höchststrafe aus dem St. Paulianer Beleidigungskatalog. Typisch, dachte ich: Wenn’s die Spieler schon nicht schaffen, machen wir’s uns eben selbst kaputt. So kaputt wie der HSV war das allerdings immer noch lange nicht.

Hossa:
Seit meinem Pitch-Invision-Kindheitstrauma von der Meisterfeier des HSV 1979 vermied ich es, über die Zäune auf den Platz zu stürmen. Ich hatte damals als knapp 13-Jähriger ganz unten in der Westkurve einen Platz gefunden und drängte mich am Zaun entlang, bis ich genau hinter dem Tor stand. Zu der Zeit träumte ich noch von einer Karriere als Torwart und dort konnte ich die Paraden der Keeper am besten beobachten. Der HSV spielte gegen Bayern München, mit Sepp Maier und Rudi Kargus standen an diesem Tag die beiden besten ihrer Zunft auf dem Rasen. Doch die HSV-Fans hatten anderes vor als beschauliche Torwartstudien. Was mit dem Abpfiff passierte, werde ich nie vergessen können. Zunächst kletterten einige im Block neben mir auf den Zaun, andere rüttelten daran. Von den oberen Traversen drängte die schwarz-weiß-blaue Masse nach, alle wollten auf das Spielfeld.
Dann wurden die Gitter niedergedrückt und die ersten Zuschauer fielen über- und durcheinander. Mich ergriff panische Angst erdrückt zu werden, und versuchte, durch die zerstörten Zaunreste auf das Feld zu flüchten. Ich lief über die Tartanbahn zu dem Tor, in dem wenige Minuten zuvor Kalle Rummenigge den Ball zum bajuwarischen Siegtreffer versenkt hatte und klammerte mich an den Pfosten. Ich schaute über die demolierten Zäune in die Westkurve, aus der immer mehr Menschen in den Innenraum drängten.
Plötzlich zog eine starke Hand an meinem Arm. „Schnell weg hier“, schrie Rudi Kargus mir ins ängstliche Gesicht und zerrte mich quer über das Spielfeld. Ich war so verwirrt, dass ich mich ohne Gegenwehr mitschleifen ließ. Als wir am Spielertunnel in der Ostkurve angekommen waren, kam uns ein Krankenwagen entgegen und raste an uns vorbei. Ich blickte zurück auf die Szenerie hinter mir, wo Menschen panisch und scheinbar ziellos über das Spielfeld rannten. Dann krachte das Tor zusammen.
Kargus steuerte mich durch die Katakomben zu einer Tür, schob mich durch und verabschiedete sich mit den Worten „Sieh zu, dass du schnell nach Hause kommst, bevor die Idioten gleich hier draußen rumtoben“.
Auf dem Weg zur S-Bahn-Station sah ich eine Gruppe HSV-Fans, die die Querlatte aus dem Stadion geklaut hatten und ihr Beutestück nun auf den Schultern wegtrugen. Am Abend erfuhr ich aus dem Fernsehen, dass es bei der Pitch-Invasion zwei Schwerverletzte gegeben hatte. Bei den Bildern der späteren Meisterfeier auf dem Rathausmarkt konnte ich zwischen den Menschen deutlich die Latte aus dem Volksparkstadion erkennen.
Und nun, 16 Jahre später, dasselbe bei St. Pauli gegen Homburg? Ich versuchte mit einigen anderen, die Leute in der Gegengerade von ihrem Plan abzuhalten, doch wir waren gegen die Masse schlicht überfordert. Ich ahnte, dass das Spiel noch nicht regulär beendet worden war und befürchtete wie viele Umstehende einen Punktabzug und damit den verpassten Aufstieg. Im Schockzustand, gepaart mit unbändiger Wut und fassungsloser Hilflosigkeit verließ ich mit meiner Bezugsgruppe das Stadion.
Mike:
Ich saß zum vermeintlichen Abpfiff auf dem Zaun der Gegengerade in Höhe der rechten Ersatzbank. Mit einem gekonnten Satz landete ich auf dem heiligen Rasen und rannte gen Mittelkreis, als wäre der Hund von Baskerville hinter mir her. Plötzlich herrschte Verwirrung. Schnell machte das Gerücht die Runde, das Spiel sei noch gar nicht abgepfiffen worden. In bester Stille-Post-Manier unkten die ersten von Spielabbruch und Aberkennung der Punkte, was gleichbedeutend mit dem Nichtaufstieg gewesen wäre.
Zum ersten Mal spürte ich am Millerntor Antipathie gegen die eigenen Leute. Während wir wie ferngesteuert gen Spielfeldrand rannten, pfiffen uns die Zuschauer hinter den Zäunen gnadenlos aus. Heute kann ich sie ein wenig verstehen, damals verstand ich das als Affront gegen mich persönlich. Ich hockte mich auf eine Grassode am Spielfeldrand und betete, die Spieler mögen wieder rauskommen.
Die Zuschauersituation im Innenraum erinnerte mich an alte Fußballübertragungen in schwarz-weiß, bei denen die Zuschauer direkt am Spielfeldrand standen und ihre Teams ganz selbstverständlich anpeitschten, ihnen quasi direkt in die Ohren brüllten. Nur hatten die Menschen neben mir weder Hüte auf noch lange Trenchcoats an. Stattdessen rannte ihnen der Angstschweiß in ihre speckigen Lederkutten. Ich werde nie diese Gesichtsausdrücke vergessen. Die waren mit Existenzangst noch diplomatisch beschrieben. In den folgenden gefühlten zehn Minuten litten unzählige Hoffnungen und Fingernägel.
Folke:
Die Zeit verging, ohne dass man recht wusste, was eigentlich gerade geschah. Dann schnappte sich Vereinsvize Christian Hinzpeter das Lautsprecher-Mikro und verkündete um 17:02 Uhr, was offensichtlich nicht der Fall war: Das Spiel war ordnungsgemäß beendet worden, St. Pauli hatte 5:0 gewonnen und war aufgestiegen. Für Bodo Brandt-Cholle war’s zum Glück das Abschiedsspiel; schmunzelnd gab er zu Protokoll, seine Geste zum Elfmeterpunkt sei als Schlusspfiffsignal mit den Homburgern verabredet gewesen, damit sie schnell in die Kabinen verschwinden könnten… Brandt-Cholle ist seitdem nicht nur mein Lieblingsschiedsrichter, sondern gerüchteweise auch von der katholischen Kirche zum Schutzheiligen der Platzstürmer ernannt worden.
Hossa:
Als wir vor dem Stadion an den sich sonnenden Polizisten vorbeikamen, hörte ich aus einem der grünen Wagen ein Radio plärren. Sofort stürmte ich auf die Beamten los und fragte „Sind wir aufgestiegen? Was haben die im Radio gesagt?“ Eine junge Blondine in Grün schnatterte sogleich los: „Ja, ihr seid aufgestiegen. Nun macht mal schön Party. Aber immer friedlich bleiben.“ Ich habe meist kein wirkliches Vertrauen zu den Aussagen von Polizisten und auch diesmal glaubte ich dem Gesagten nicht vollends.
Wir beschlossen, zum Getränkeladen zu gehen um dort zunächst die Berichterstattung im Fernsehen abzuwarten. Die endlose Zeit bis zum St. Pauli-Bericht verbrachten wir Bier trinkend und weitgehend schweigend. Als die frohe Kunde dann sozusagen aus offiziellem Mund über den Sender in den Laden schwebte, dauerte es noch einige Sekunden, bis die Nachricht vom Aufstieg bei jedem von uns die letzten Hirnwindungen erreicht hatte. Mit Verzögerung brach der Jubel los und mit eisgekühltem Champagner ging es auf die Straße hinaus. Endlich durften wir feiern!
Folke:
Ich schrieb damals für die Hamburger Lokalausgabe der taz und eilte dementsprechend nach Abpfiff – beziehungsweise der späten Bekanntgabe eines Abpfiffs – in die Redaktion. Irritiert von den Ereignissen rund um den „Aufstieg der Zaungäste“ schrieb ich von „marodierenden Fans“, einem Akt „kollektiv-narzisstischer Sabotage“ und spekulierte sogar über einen Zwangsumzug in den verhassten Volkspark. Aus heutiger Sicht ein paar Nummern zu groß, aber dass ein solches Selbstgänger-Spiel am Ende noch so viel Dramenpotenzial haben würde, hatte wohl niemand erwartet.
Auch unter den Fans wurde gestritten; lange war die Feierlaune überlagert von der Auseinandersetzung, wer sich nun richtig und wer falsch verhalten hatte. Das Fanzine Unhaltbar!, für das ich später auch schreiben sollte, gab die Diskussion wieder: „Wer ist der Trottel? Der auf den Rasen läuft und sich freut und das als Masse macht und damit unkontrollierbar ist? Gibt mensch als Teil einer solchen Riesenmenge an euphorischen Fans sein Hirn ab und läuft hinterher, ganz egal, was die Menge als solche macht? Oder sind diejenigen die Trottel, die einem kreischenden Stadionsprecher glauben und genauso massenhaft die Fans auf dem Rasen zu ‚angeblichen‘ Fans machen und sie zum HSV schicken wollen?“.
Mike:
Kurze Zeit später standen wir mit einem geklauten Stück Millerntor-Rasen mit meinem Vater an der Jet-Tankstelle in der Feldstraße und stießen mit Dosenbier auf den Aufstieg an. Von der großen Euphorie, die noch am Vormittag herrschte, war trotz des historischen Ereignisses nicht mehr viel übrig geblieben. Zu sehr steckte allen noch die Gefahr des Spielabbruchs in den Knochen. Nach einigen weiteren Bieren in einer Kneipe in der Marktstraße, die im Karo-Viertel lag und so nur einen Abschlag vom Zauber des Millerntors entfernt war, traten wir die Heimreise an. Ein Akt der Solidarität – denn ein Mitglied unseres Fanclubs musste an diesem Nachmittag arbeiten. Seinem Vater gehörte in Reinbek „Die Kleine Kneipe“, die wir ob ihrer nicht vorhandenen Größe liebevoll „Einzelzelle“ nannten. Wir beschlossen, unseren Absacker dort einzunehmen. Auf der Rückfahrt gingen wir wieder und wieder die Szene durch, die uns allen die Feierlaune gründlich verdorben hatte. Der eine wollte in der Geste des Schiedsrichters einen Elfmeter erkannt haben, der andere tippte auf Abstoß. Egal, es war geschafft. St. Pauli war in der Bundesliga.
Als wir in die Einzelzelle kamen, war unser Kumpel bereits am Gläserspülen. Wir verfrachteten ihn auf die gute Seite des Tresens und nahmen den Zapfhahn selbst in die Hand. Nach einigen Herrengedecken war die Stimmung dem Ereignis angemessen. Wir betranken uns hemmungslos und feierten dann doch noch den größten Erfolg, den wir jemals live mit dem FC St. Pauli erleben durften.
Vom knapp 800 Meter langen Rückweg nach Hause weiß ich dementsprechend wenig. Das einzige, was mir am nächsten Tag noch einfiel, war, dass einer meiner Kumpel noch einen Grabstein bei einem Steinmetz neben der Kneipe umgeschmissen hatte, was ihm als gerechte Strafe immerhin einen gebrochenen Zeh einbrachte. Und ich entsann mich noch dunkel, dass wir den alten Gassenhauer „Der Olaf Thon schlägt seinen Sohn“ um zirka drei Uhr morgens in einer Reihenhaussiedlung intoniert hatten.
Hossa:
Anscheinend hatte das ganze Viertel bis zur Verkündung des Aufstiegs im TV mit den Feierlichkeiten gewartet. Nun strömten die Menschen aus den Häusern und stellten gemeinsam ein spontanes Straßenfest auf die Beine. Später zogen wir noch auf die überfüllte Reeperbahn, wo 50.000 Menschen den Kiez in Braun und Weiß tünchten.
Folke:
Als ich gegen 23 Uhr wieder auf dem Kiez ankam, war die offizielle Balkon-Fete auf der Reeperbahn lange vorbei, aber auch der Platzsturmschleier hatte sich gelegt. Die Stimmung näherte sich langsam der Vorwoche an, als die mitgereisten Fans ein 3:1 beim FSV Frankfurt bereits zur Aufstiegsfeiergeneralprobe genutzt hatten. Und – damals eindeutig nach dem Schlusspfiff – auch dort in Scharen auf den Rasen geströmt waren.
Nun strömten die Feiernden weg von der Reeperbahn in die Seitenstraßen des Kiezes. Weit nach Mitternacht erschien auch Uli Maslo in der Friedrichstraße, um sich gratulieren zu lassen. Sein Rivale Jürgen Wähling suchte noch ein bisschen mehr Fan-Nähe. Der Manager, der ein halbes Jahr später den Machtkampf mit Maslo verlieren würde, legte ein paar Schritte vom Trainer entfernt im „Osborne“ gar nicht unbeholfen als DJ auf.
Zurück in meiner Eimsbütteler Studentenbude schmiss ich eine dieser Zwanziger-Jahre-Bürolampen vom Nachttisch, die man als angehender Akademiker gerne in seinem Arbeits- und Schlafzimmer stehen hatte. Scherben bringen Glück, dachte ich mir und war froh, dass kein Profi wie Uli Hoeneß die Aufstiegsfeiern durchorganisiert hatte: Mit selbstbewusster Selbstverständlichkeit und riesigen Gläsern Weißbier, aber ohne Tumult, ohne Scherben und ohne das große Gefühl, dem Lauf der Dinge einmal mehr ein kleines Schnippchen geschlagen zu haben.
Mike:
Am nächsten Morgen folterte mich der grelle Pfeifton meines Weckers. Ich schaltete den Fernseher an, klappte die Lehne meines Schlafsofas in Richtung TV und kroch wieder unter die Decke. Als sie zwei Tage später wieder mit mir sprach, erzählte meine Mutter, dass ich partout nicht zur Schule gehen wollte.
Kein Wunder, mit 1,7 Promille Restblut im Alkohol. Um den Familienfrieden wiederherzustellen, einigten wir uns, dass ich es mit einer ehrlichen Entschuldigung versuchen sollte – die Bedingung für die Unterschrift meiner Mutter. Ich formulierte so diplomatisch wie möglich: „Aufgrund von Auswirkungen einer wichtigen Feier konnte mein Sohn am 19. Juni nicht am Unterricht teilnehmen.“ Das musste klappen. Jeder Lackaffe bekam für kurzfristige Allianzen wie Eheschließungen einen Tag frei, da wird es einem Fußballfan doch wohl vergönnt sein, selbiges für den Aufstieg seines Teams in Anspruch zu nehmen. Diese Liebe hält wenigstens ewig, bis dass der Zwangsabstieg uns scheidet.
Mein Deutschlehrer zeigte sich erfreut über die Ehrlichkeit und versprach mir, die Entschuldigung zu akzeptieren, sobald mein Tutor unterschrieben hatte. Das sollte die kleinste Hürde darstellen, schließlich handelte es sich dabei um den netten Lehrer aus dem Geschichte-Leistungskurs, in dem ich stets zwischen 12 und 14 Punkten pendelte. Dieser zeigte sich leider von seiner reaktionären Seite und verweigerte seine Signatur. Nicht zu fassen. Hätte ich was von Durchfall oder Kopfschmerzen geschrieben, wäre die Sache in Sekunden erledigt gewesen. Doch ein Aufstieg des FC St. Pauli ist mehr als Durchfall und Kopfschmerzen. Es ist Filmriss, Sodbrennen, Delirium und Orgasmus zugleich.
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich ging zum Direktor, der gleichzeitig mein Mathelehrer war und am meisten vom Aufstieg profitiert hatte. Schließlich hätte ich am Montag eine Doppelstunde beim ihm gehabt. „Herr Herrmann, ist es das Grundprinzip der Sachsenwald-Oberschule, dass Lügner belohnt werden und ehrliche Schüler als Schwänzer dastehen?“ Herr Herrmann beugte sich aus seinem schweren Ledersessel ein wenig zu mir über den massiven Holzschreibtisch, schob seine Halbbrille noch weiter Richtung Nasenlöcher und gab die Antwort, die ich hören wollte. „Natürlich nicht.“
Ich erzählte ihm meine Geschichte und offenbar verstand er, dass mir diese Nacht wirklich mindestens genau so viel bedeutete, wie anderen die Hochzeit ihrer Schwester oder der 80. Geburtstag ihrer Oma. Er versprach, die Angelegenheit zu regeln, wenn es bei dieser Ausnahme bliebe. „So schnell steigt St. Pauli nicht wieder ab“, log ich in den Raum und zog mit Genugtuung davon.

FC St. Pauli: Thomforde (79. Böse) – Trulsen, Fröhling, Hanke, Stanislawski – Hollerbach, Pröpper, Driller (70. Schweißing), Szubert – Scharping, Sawitschew (74. Springer)
Trainer: Maslo
FC Homburg: Eich – Kluge, Nuhic, Martuccio, Linke – Muschinka, Rus, Groh, Schmidt – Koch, Knobloch
Trainer: Sude
Gelb-Rote Karte: Schmidt (60., Homburg)
Tore: 1:0 Sawitschew (20.), 2:0 Driller (32.), 3:0 Scharping (37.), 4:0 Pröpper (57.), 5:0 Scharping (84.)
SR: Brandt-Cholle (Berlin) – Z.: 21.000
P.S.: Zwei Jahre rockten die Kiezkicker die Bundesliga, stiegen 1997 am Saisonende aber als Tabellenletzter gemeinsam mit Freiburg und Düsseldorf ab. Uli Maslo wurde nach dem 28. Spieltag entlassen, sein Nachfolger K.P. Nemet kassierte in den letzten sechs Partien sechs Niederlagen und 1:17 Tore. Gruselfaktor hoch zehn!
// Hossa