Last exit Bruchweg
Die Nacht bricht langsam herein über Hamburg. Ich habe das Glück, die letzten Stunden, bevor es auf meine längste Auswärtsfahrt dieser Saison geht, zum Saisonabschluss nach Mainz, die Stadt, die wir in Kürze bald alle überfallen werden, auf einem der letzten kleinen Refugien dieser Stadt zu verbringen. Es wird auf dem Bauwagenplatz Rondenbarg, der zwischen meiner Wohnung in Bahrenfeld und dem uncharmanten Wellblechbunker der Unaussprechlichen liegt, Geburtstag gefeiert und gegrillt. Zwischendurch kreist eine Schnapsflasche mit fruchtigem Inhalt, „den Oma angesetzt hat“. Herrlich.
Obwohl ich kaum jemanden kenne, fühle ich mich unter gleichgesinnten. Das schöne ist: Das wird sich die nächsten dreißig Stunden nicht ändern. Da ich schon in meiner Auswärtsklamotte unterwegs bin, natürlich frisch rasiert und sauber gewaschen, schließlich will man seinen Gastgebern später nicht unbedingt mehr als nötig auf den Geist gehen, werde ich häufig auf den magischen FC angesprochen. „Saison war scheiße, wie geht es denn nun mit dem Stadion weiter, der ganze Trara um die Wechsel war ja auch unglücklich, Stani ist auch weg…“ So komme ich ins Grübeln. Wie war es denn eigentlich die letzten neun Monate?
Geil war´s. Für mich schließt sich heute ein kleiner Kreis. Mein erstes Spiel bei St. Pauli war am 8.9.2001 gegen Schalke 04. Ich, engagierter Zivildienstleistender, abends zu lang unterwegs, morgens zu schnell bei der Sportzigarette, begleitete einen Rollstuhlfahrer auf seinen Wunsch hin auf die sich damals vor der alten Gegengerade befindlichen Rollstuhlplätze. Das Wetter war mäßig, der Weg zu den Rolliplätzen total aufgeweicht. Da stand ich dann. Und erlebte mein persönliches Inferno. Der Mob tobte, ich bekam sicher sieben oder acht Bierduschen ab (weiche Becher, kein Pfand, niemand verletzt), das Spiel ging – jedenfalls in meiner Erinnerung – hin und her, am Ende trottete St. Pauli mit zwei zu null Toren geschlagen vom Platz. Damals in der Abwehr: Die Herren Trulsen und Stanislawski. St. Pauli stand an diesem fünften Spieltag auf Platz siebzehn, kam im Verlauf der Saison nie über diesen Platz hinaus und stieg als letzter ab.
Aber ich kam wieder. War es anfangs noch schwer gewesen, Karten zu bekommen, wurde es ab der Hälfte der Liga zwei immer leichter, Einlass gewährt zu bekommen. Trotzdem kaufte ich mir nach dem nächsten Abstieg in Liga drei eine Dauerkarte. Ich wollte nicht mehr suchen, ich wollte einfach immer nur noch da sein. Mit all den Leuten, die sich im Laufe dieser paar Jahre zu einem kleinen zweiwöchentlichen Fixpunkt gemausert hatten. Ich stehe dort auch heute noch, ich habe den Platz unterhalb des Block 1 nie mehr verlassen. Und habe seitdem jede Menge Stadien in anderen Städten besucht.
Und heute? Während sich um mich herum die Leute satt essen, kippe ich Holsten Edel in mich hinein (Astra kommt mir nicht in den Hals, da kann der Verein machen was er will) und werde ein wenig melancholisch. Wieder 1. Liga. Wieder letzter. Wieder ewig nix gewonnen.
Den Aufstieg in die erste Liga habe ich fast privat genossen. Die ganze inszenierte Feierei auf dem Kiez, das war und ist nichts für mich. Schön, wenn sich Abertausende mit mir freuen, wenn „mein“ Viertel zum Ausnahmegebiet wird, weil wir es wollen und nicht, weil die Polizei es will, aber: in Fürth nach Abpfiff am Zaun in beschissenen Klamotten (Motto der Fahrt fällt mir gerade nicht mehr ein, auf jeden Fall sahen alle bekackt aus) zu stehen, langsam begreifen, was da gerade großes entsteht – mit Menschen, die man wenigstens vom Sehen kennt, mit denen man gemeinsam zum Stadion gelaufen ist und mit denen man gleich gemeinsam zurück zum Bahnhof gehen wird – dieses Gefühl kann einem keiner nehmen, Kollektivrausch hin oder her..
Und jetzt breche ich langsam auf zu meinem zweiten Erstligaabstieg. Der Drops ist gelutscht, die dicke Dame auf der Bühne beginnt den Schlussakt der Oper. Schockierend, was im Kartenverkaufsfaden Mainz im Forum bis kurz vor Abfahrt los war. Wer will nochmal, wer hat noch nicht, gerne zum halben Preis. „Meine Leute haben keinen Bock mehr und dann will ich auch nicht, wissens´ schon, goldene Ananas und so.“ Mir ist vollkommen unverständlich, wie manch eine und manch einer den Erfolg gerne in der Masse genießt und die Schattenseiten daheim vor dem Fernseher erleidet. Damit meine ich ausdrücklich nicht jene, für die schon seit langem feststand, dass sie nicht nach Mainz fahren können! Wichtige Gründe fürs zu Hause bleiben gibt es immer, bei jeder und jedem. Aber hey: Sonderzug, Bruchweg, Verabschiedung von Trainern, Spielern und einem Stadion! Merkt ihr selber, ne? Was soll´s. Für mich gibt es heute keinen Grund, zu Hause zu bleiben und so lasse ich den Grill Grill sein und bewege mich gut gelaunt gen Altona…
Der Zug, wie immer in stilsicherem Magenta gewandet, ist pünktlich, die Bahn hat auch keinen Wagen vergessen. Pannenfreie Abfahrt in Altona. Für die Hinfahrt hatte unser Abteilnachbar den Klassiker Pernod-Cola aufgetrieben, eine wunderbare Hommage an meinen Frankreichaustausch 1997. Und so unspektakulär wie die Abfahrt gestaltete sich die ganze Hinfahrt. Die Leute entspannt, wenn sie nicht sowieso geschlafen haben, der Partywaggon war, meinen nicht mehr ganz alkoholfreien Betrachtungen nach, voll, aber nicht übermäßig. In Hannover noch ein, zwei Hände voll Leute eingesammelt (ebenfalls pünktlich) und das gemächliche Rheinschaukeln nahm seinen Lauf – schließlich sollte um elf das große Minigolfen auf dem Homeground des legendären 1. Minigolfclub Mainz e.V. (http://www.mgc-mainz.de/) stattfinden. Konnte es auch, denn in Mainz selber hat niemand auf uns aufgepasst oder uns zum Verweilen auf dem Bahnhofsvorplatz gezwungen. Es waren zwar Polizisten vor Ort, allerdings in angenehm geringer Zahl und unbehelmt. Sie waren sich auch nicht zu schade, uns über ihren Lautsprecherwagen mit Musik zu empfangen. Die Hüter der Verfassung und ich werden in diesem Leben sicher keine Freunde mehr, aber wenn ein Auswärtsmob in jeder Stadt so empfangen werden würde, könnten wir mit Sicherheit mehr Energie in unseren Support legen als uns mit der Aufarbeitung irgendwelcher gewalttätiger polizeilicher Einsätze beschäftigen zu müssen.
Das Minigolfen selber geriet dann zu einer Farce, aber einer der angenehmeren Sorte. Dem unbeteiligten Zuschauer bot sich folgendes Bild: 18 Bahnen, top gepflegt, bundesdeutscher Wettkampfstandard. Diese waren größtenteils von Damen und Herren älteren Semesters belegt, ausgestattet mit einer High-End-Minigolf-Ausrüstung: Handgelenkschoner gegen die Gefahr einer Sehnenscheidenentzündung, maßgeschmiedeter Schläger und Bälle unterschiedlicher Beschaffenheit, um den verschiedenen Spielsituationen und Bahnanforderungen gerecht werden zu können. Ebenfalls durfte ein auf handliches Maß zurechtgestutzter Vileda-Feudel (der mit den dünnen Lederstreifen) nicht fehlen, um dem Blütenmeer, das unablässig auf uns herabregnete, Herr zu werden und ein störungsfreies Rollen der Bälle zu garantieren. Die Bahnen selber waren in einen malerischen Hang hinein gegossen, aufwendig gepflasterte Wege machten ein Verlaufen unmöglich.
Und dazwischen: Wir. Das Sonderzugmotto „Alle im Trikot“ hatte die Überzahl beherzigt, die Alkoholproblematik bei Auswärtsfahrten ist dem geneigten Leser sicher auch bekannt und mit sportlicher Betätigung haben die meisten von uns in der knapp bemessenen Freizeit offensichtlich nicht allzu viel am Hut. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab, schließlich wurde unser etwa 50 Leute starker Trupp in komischen Hemden als Eindringlinge in einen ansonsten routinierten Trainingsvormittag betrachtet. Der Kampf um die Vorherrschaft über einzelne Bahnen wurde aber zum Glück nur verbal geführt. Nichtsdestotrotz war der Seufzer der Erleichterung, der durch Mainz schallte, als wir einpackten, sehr deutlich zu hören.
Ich persönlich habe die Partie nach Bahn 9 abgebrochen, die mitspielenden Hannoverhools hatten zu dem Zeitpunkt bereits ihre nicht mehr abzuwendende Niederlage akzeptiert. Zum Stadion wurde gemeinsam gegangen, wiederum sehr stressfrei. Zum Spiel selber muss ich ja nicht mehr viel schreiben, lest euch einfach alle Spielberichte seit dem Derby durch, dann seid ihr einigermaßen im Bilde. Schön: Extra-Applaus für Lelle und Eger, die Optik der Mainz-Choreo, die Stimmung auf unseren beiden Tribünen, die ich als wirklich außergewöhnlich gut empfunden habe. Schlecht: das plastikhafte der Mainzer Choreo, Stanislawski hat sich nach dem Spiel nicht mehr sehen lassen, eine Sonnenbrille ging verloren. Also alles halb so wild.
Gegen 18:00 Uhr hieß es „ab innen Zuch“, wieder mit polizeiseitiger Hells-Bells-Beschallung, und das Saisonende wurde, soweit ich mich erinnere, absolut würdig, kultig und Paaaady-mäßig eingeläutet. Vielen, vielen tausend Dank an den Fanladen, die Tresenleute, Bierausschenker_innen, Kaffekocher_innen, Aufräumer_innen, Schlepper_innen, Musikaufleger_innen (der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh!) und allen, die dazu beigetragen haben, dass anderthalbtausend (?) Menschen nach einem Abstieg in Bombenlaune Richtung Hamburg fahren konnten. Und mal ehrlich, wenn eine halbe Stunde vor Hamburg sogar die Security lacht und alles ein wenig langweilig findet, kann es so schlimm nicht gewesen sein.
Lieber inzwischen 101jähriger FC St. Pauli, wir sehen uns wieder. Dann zwar in kleineren Arenen Deutschlands, gegen Paderborn, gegen Düsseldorf und gegen Rostock, aber du weißt ja, weil du es tausendfach gehört hast: „Scheißegal, was passiert, wir werden immer bei dir sein…“ // Zwille
Kommentare sind geschlossen.